Der Klient
Bienenkorb juristischer Aktivitäten; Tausende von Anwälten eilten auf seinen gefliesten und mit Marmor verkleideten Fluren entlang und arbeiteten sich durch guterhaltene und sauber geschrubbte Gerichtssäle hindurch. Es war ein älteres Gebäude, aber ein sehr schönes mit Bildern an den Wänden und ein paar Statuen. Harry hätte dort einen Gerichtssaal haben können, aber er hatte nein gesagt. Und gleichfalls nicht weit entfernt war das Shelby County Justice Center mit einem Labyrinth aus hochmodernen neuen Gerichtssälen mit hellen Leuchtstoffröhren und Lautsprecheranlagen und gepolsterten Sitzen. Harry hätte auch von ihnen einen haben können, aber auch den hatte er abgelehnt.
Er blieb hier, im Juvenile Court Building, einer umgebauten High School, ziemlich weit von der Innenstadt entfernt, mit nur wenigen Parkplätzen und wenigen Hausmeistern und mehr Fällen pro Richter als auf jeder anderen Prozeßliste der Welt. Sein Gericht war das unerwünschte Stiefkind des juristischen Systems. Die meisten Anwälte machten einen großen Bogen darum. Die meisten Jurastudenten träumten von prächtigen Büros in hohen Gebäuden und reichen Mandanten mit dicken Brieftaschen. Davon, sich ihren Weg durch die von Schaben wimmelnden Flure des Jugendgerichts zu bahnen, träumten sie nie.
Harry hatte vier Berufungen abgelehnt, alle an Gerichte, in denen im Winter die Heizung funktionierte. Er war für diese Posten in Erwägung gezogen worden, weil er intelligent und schwarz war, und er hatte sie abgelehnt, weil er arm und schwarz war. Man zahlte ihm sechzigtausend Dollar im Jahr, das niedrigste Gehalt an sämtlichen Gerichten der Stadt, damit er seine Frau und seine vier halbwüchsigen Kinder ernähren und in einem hübschen Haus wohnen konnte. Aber als Kind hatte er den Hunger gekannt, und diese Erinnerungen verblaßten nicht. Er würde in sich immer den armen schwarzen Jungen sehen.
Und das war genau der Grund, weshalb der einst so vielversprechende Harry Roosevelt ein simpler Richter am Jugendgericht geblieben war. Für ihn war es der allerwichtigste Job der Welt. Er besaß von Amts wegen die ausschließliche Entscheidungsbefugnis über straffällig gewordene, schwererziehbare, drogenabhängige und vernachlässigte Kinder. Er bestimmte die Vaterschaft von unehelich geborenen Kindern und verschaffte seinen eigenen Anweisungen für ihren Unterhalt und ihre Erziehung Geltung, und in einer Region, in der die Hälfte der Kinder von ledigen Müttern zur Welt gebracht wurde, machte dies den größten Teil seiner Fälle aus. Er sprach Eltern ihre Rechte ab und brachte mißbrauchte Kinder in neuen Heimen unter. Harry trug schwere Lasten.
Sein Gewicht lag zwischen hundertfünfzig und zweihundert Kilogramm, und er trug jeden Tag dieselbe Kleidung – schwarzen Anzug, weißes Baumwollhemd und Fliege, die er selbst band, und zwar ziemlich schlecht. Niemand wußte, ob Harry nur einen schwarzen Anzug besaß oder fünfzig. Er sah immer gleich aus. Er war eine imposante Gestalt am Richtertisch, von wo aus er über seine Lesebrille hinweg Väter anfunkelte, die sich davor drücken wollten, für ihre Kinder zu zahlen. Solche Väter, schwarze und weiße gleichermaßen, lebten in ständiger Angst vor Richter Roosevelt. Er würde sie aufspüren und ins Gefängnis stecken. Er machte ihre Arbeitgeber ausfindig und ließ ihren Lohn pfänden. Wenn man sich gegen Harrys Kids, wie sie allgemein genannt wurden, etwas zuschulden kommen ließ, konnte es sehr schnell passieren, daß man in Handschellen und mit einem Gerichtsdiener an jeder Seite vor ihm stand.
Harry Roosevelt war eine Legende in Memphis. Die Stadtväter hatten es für angebracht gehalten, ihm zwei weitere Richter zur Seite zu stellen, aber er hatte trotzdem noch ein brutales Pensum zu erledigen. Er traf gewöhnlich schon vor sieben Uhr ein und machte sich selbst seinen Kaffee. Punkt neun begann er mit den Gerichtssitzungen, und Gott gnade dem Anwalt, der zu spät kam. Er hatte im Laufe der Jahre schon etliche von ihnen ins Gefängnis gesteckt.
Um halb neun brachte seine Sekretärin einen Kasten voller Post herein und teilte Harry mit, daß einige Herren draußen warteten, die ihn unbedingt sprechen wollten.
»Was liegt sonst noch an?« fragte er, während er den letzten Bissen eines Apfel-Kopenhageners verspeiste.
»Es könnte sein, daß Sie diese Herren empfangen wollen.«
»Ach, wirklich? Wer ist es?«
»Einer ist George Ord, unser ehrenwerter Bundesanwalt.«
»George war
Weitere Kostenlose Bücher