Der Knochenjäger
seiner Opfer entledigen wollte.
Die Kleine, die in der berüchtigten »Hell's Kitchen« wohnte, war auf die Straße geeilt, um Roßhaar zu klauben. In diesem bettelarmen Stadtteil pflegten die Kinder die Schweißaare der zahlreichen auf offener Straße verendeten Tiere auszuzupfen und daraus Armreifen und Ringe zu flechten - der einzige Schmuck, mit dem sich diese armen Bälger zu zieren vermochten.
Haut und Knochen, Haut und Knochen.
Er stellte das Foto auf den Kaminsims, neben den kleinen Haufen Knochen, an dem er heute morgen gearbeitet hatte, und die Beute aus dem Laden, in dem er auch die Schlange gestohlen hatte.
Man vermutet, daß Schneider die kleine Maggie in der Nähe seines Unterschlupfes aufgriff, weil sie Augenzeugin seines ruchlosen Treibens geworden war und mit angesehen hatte, wie er eines seiner Opfer ermordete. Wie und auf welche Weise sie zu Tode kam, weiß man nicht. Denn im Gegensatz zu Schneiders anderen Opfern, deren sterbliche Überreste schließlich allesamt entdeckt wurden, blieb die zarte, lockenköpfige Maggie für immer verschwunden.
Der Knochensammler ging nach unten.
Er riß das Klebeband vom Mund der Mutter, worauf sie keuchend Luft holte. »Was wollen Sie von uns?« krächzte sie. »Was?«
Sie war nicht so schmal wie Esther, aber Gott sei Dank hatte sie auch nichts mit der fetten Hanna Goldschmidt gemein. Er konnte ihr Innerstes sehen. Den schmalen Unterkiefer, das Schlüsselbein. Und durch den dünnen blauen Rock die Andeutung der Beckenknochen-Darmbein, Sitzbein und Schambein, das Os ilium, das Os ischii und das Os pubis. Namen wie römische Götter.
Die Kleine wand sich. Er beugte sich vor und legte die Hand auf ihren Kopf. Der Schädel besteht nicht etwa aus einem einzigen Knochen, sondern ist aus acht Einzelstücken zusammengesetzt. Er berührte das Hinterhauptbein der Kleinen, das Scheitelbein darüber. Und die zarten Knochen um die Augenhöhle - das Keilbein und das Siebbein -, die zu seinen Lieblingsknochen gehörten.
»Hör auf damit!« Carole schüttelte wütend den Kopf. »Nimm die Pratzen von ihr.«
»Schhhh«, sagte er und hielt den behandschuhten Finger an die Lippen.
Er betrachtete die Kleine, die sich weinend an ihre Mutter drückte.
»Maggie O'Connor«, gurrte er und musterte die Umrisse des Mädchengesichts. »Meine kleine Maggie.«
Die Frau funkelte ihn an.
»Du warst zur falschen Zeit am falschen Ort, mein Kind. Was hast du gesehen?«
Die Gebeine bleiben jung.
»Was redest du da?« flüsterte Carole.
Er wandte sich ihr zu.
Der Knochensammler hatte sich stets Gedanken über Maggie O'Connors Mutter gemacht.
»Wo ist Ihr Mann?«
»Er ist tot«, versetzte sie. Dann blickte sie zu dem kleinen Mädchen und sagte etwas leiser: »Er ist vor zwei Jahren umgekommen. Hören Sie, lassen Sie meine Tochter einfach laufen. Sie kann doch niemandem was von Ihnen erzählen. Wollen Sie ... hören Sie mir zu? Was machen Sie da?«
Er nahm Caroles Hände und hob sie hoch.
Er betastete die Mittelhandknochen. Die Fingerglieder. Drückte die Gelenke.
»Nein, lassen Sie das. Ich mag das nicht. Bitte!« Ihre Stimme war rauh und krächzend, angsterfüllt.
Er spürte, wie er die Beherrschung verlor, und das paßte ihm ganz und gar nicht. Wenn er sein Werk und die Pläne, die er mit seinen Opfern hatte, erfolgreich fortführen wollte, mußte er diese leidigen Gelüste unterdrücken - der Wahnsinn trieb ihn immer weiter in die Vergangenheit, so daß Heute und Damals mehr und mehr durcheinandergerieten.
Früher und Später ...
Er mußte all seine Intelligenz und Schläue aufbieten, wenn er das Werk, das er begonnen hatte, zu Ende bringen wollte.
Und doch ... und doch ...
Sie war so schmal, die Haut war so straff. Er schloß die Augen und stellte sich vor, wie es klingen mochte, wenn er mit einem Messer über das Schienbein strich - als führte man den Bogen über eine alte Violine.
Sein Atem ging rasch, und der Schweiß lief ihm in Strömen herab.
Als er schließlich die Augen wieder aufschlug, stellte er fest, daß er ihre Sandalen musterte. Er hatte nicht viele Fußknochen, die in gutem Zustand waren. Die Obdachlosen, auf die er in den letzten Monaten Jagd gemacht hatte - nun ja, die hatten an Rachitis und Osteoporose gelitten, und ihre Zehen waren durch schlechtes Schuhwerk verunstaltet.
»Ich mache Ihnen ein Angebot«, hörte er sich sagen.
Sie blickte auf ihre Tochter. Drückte sie enger an sich.
»Ich mache Ihnen ein Angebot. Ich lasse Sie laufen, wenn Sie
Weitere Kostenlose Bücher