Der Knochenjäger
Amelia, wenn Sie schlechte Laune haben?«
»Ich habe keine schlechte Laune«, schnauzte er.
»Hat er wirklich nicht«, bestätigte Thom. »Er kann es nur nicht ausstehen, wenn man ihn bei irgend etwas ertappt.« Der Adlatus deutete mit dem Kopf auf den eindrucksvollen Rollstuhl. Sie warf einen Blick auf den Schriftzug an der Seite. Es handelte sich um einen Storm Arrow, hergestellt von der Action Company. »Der stand die ganze Zeit unten in der Abstellkammer, während er oben herumlag und seine jämmerlichen Leidensgeschichten gesponnen hat. Ach, das werde ich ihm noch heimzahlen.«
»Keine Kommentare, Thom. Besten Dank. Ich bitte ja schon um Entschuldigung, in Ordnung? Es tut mir leid.«
»Er hat ihn schon seit Jahren«, fuhr Thom fort. »Hat das Saugen und Blasen in null Komma nichts gelernt. Das ist die Steuerung per Strohhalm. Er kann das wirklich sehr gut. Mich nennt er übrigens immer Thom. Ich werde nie, auch nicht in besonderen Fällen, mit meinem Vornamen angeredet.«
»Ich hatte es satt, mich ständig angaffen zu lassen«, sagte Rhyme trocken. »Deshalb habe ich keine Spritztouren mehr unternommen.« Dann warf er einen Blick auf ihre geplatzte Lippe. »Schmerzen?«
Sie betastete ihren Mund, den sie zu einem Grinsen verzogen hatte. »Brennt wie Feuer.«
Rhyme blickte zur Seite. »Und was ist Ihnen widerfahren, Banks ? Rasieren Sie sich neuerdings die Stirn?«
»Ich bin gegen einen Löschwagen gelaufen.« Der junge Mann grinste und legte wieder den Finger auf das Pflaster.
»Rhyme«, versetzte Sachs. Sie lächelte nicht mehr. »Hier ist nichts. Er hat das kleine Mädchen, und ich bin nicht rechtzeitig an die fingierten Spuren rangekommen.«
»Ah, Sachs, etwas ist immer da. Haben Sie Vertrauen in die Lehren von Monsieur Locard.«
»Ich hab' gesehen, wie die Hinweise verbrannt sind. Und falls überhaupt irgendwas übriggeblieben ist, ist es unter Tonnen von Schutt begraben.«
»Dann suchen wir eben die Spuren, die er nicht hinterlassen wollte. Diesen Tatort bearbeiten wir gemeinsam, Sachs. Sie und ich. Kommen Sie.«
Er blies zweimal kurz in den Strohhalm und setzte sich in Bewegung. Sie war noch keine zehn Schritte auf die Kirche zugegangen, als sie plötzlich »Moment« sagte.
Er hielt an.
»Sie werden nachlässig, Rhyme. Ziehen Sie ein paar Gummiringe über die Räder. Sie wollen doch nicht, daß man Ihre Spuren mit denen des Täters verwechselt.«
»Wo fangen wir an?«
»Wir brauchen eine Ascheprobe«, sagte Rhyme. »Hinten in dem Wagen waren immer ein paar leere Farbbüchsen. Sehen Sie nach, ob Sie eine finden.«
Sie holte eine Büchse aus den Überresten des Kombis.
»Wissen Sie, wo das Feuer ausgebrochen ist?« fragte Rhyme.
»In etwa.«
»Dringen Sie so weit zum Brandherd vor, wie Sie können, und sammeln Sie eine Probe von der Asche dort ein - einen halben bis einen Liter.«
»Gut«, sagte sie und kletterte über eine etwa anderthalb Meter hohe Ziegelmauer - mehr war von der Nordseite der Kirche nicht übriggeblieben. Sie blickte hinab in die qualmende Grube, die sich zu ihren Füßen auftat.
»He, Officer«, rief ein Mann von der Feuerwache. »Wir haben die Brandstätte noch nicht gesichert. Es ist gefährlich.«
»Nicht so gefährlich wie beim letztenmal, als ich da runter bin«, antwortete sie. Und sie nahm den Henkel der Büchse zwischen die Zähne und kletterte die Wand hinab.
Lincoln Rhyme beobachtete sie dabei, aber eigentlich sah er sich, wie er vor dreieinhalb Jahren seine Anzugjacke ausgezogen hatte und zu der Baustelle beim Eingang der U-Bahnstation City Hall hinabgeklettert war. »Sachs«, rief Rhyme. Sie drehte sich um. »Seien Sie vorsichtig. Ich habe die Überreste des Kombis gesehen. Ich möchte nicht, daß Sie sich an einem Tag zweimal um Kopf und Kragen bringen.«
Sie nickte und verschwand dann unter der Mauerkante.
Nach ein paar Minuten herrschte Rhyme Banks an: »Wo ist sie?«
»Weiß ich nicht.«
»Ich wollte damit anfragen, ob Sie mal nach ihr sehen könnten.«
»Oh, klar.« Er ging zur Mauer und blickte darüber hinweg.
»Nun?« fragte Rhyme.
»Ein einziges Chaos.«
»Selbstverständlich ist es ein einziges Chaos. Können Sie sie sehen?«
»Nein.«
»Sachs?« schrie Rhyme.
Irgendwo knarrte es im Gebälk, dann krachte etwas zusammen. Eine Staubwolke stieg auf.
»Sachs? Amelia?«
Keine Antwort.
Er wollte ihr gerade ein paar Leute des Einsatzkommandos hinterherschicken, als er ihre Stimme hörte. »Komme schon.«
»Jerry?« rief
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