Der Koch
Ulagu erhalten hatte. Darin hatte er geschrieben, dass er sich dem Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit verschrieben und den Kämpfern der LTTE angeschlossen habe. Es sei seine Schrift, hatte die Schwester gesagt, aber nicht seine Sprache.
Er sah Thevaram kommen. Er bahnte sich durch die Reisenden, Wartenden und Müßiggänger eines sonntäglichen Bahnhofs seinen Weg, neben ihm der schweigsame Rathinam.
Sie begrüßten ihn und stellten sich zu ihm ans Tischchen. Keiner der beiden machte Anstalten, sich am Stand ein Getränk zu holen.
Maravan deutete auf die Zeitung. Thevaram zog sie zu sich heran, hob sie etwas an, ertastete mit einer Hand den Umschlag und zählte, ohne hinzusehen, die Noten. Dann hob er anerkennend die Brauen und sagte: »Ihre Brüder und Schwestern in der Heimat werden es Ihnen danken.«
Maravan nahm einen Schluck Tee. »Vielleicht können sie auch etwas für mich tun.«
»Sie kämpfen für Sie«, erwiderte Thevaram.
»Ich habe einen Neffen. Er hat sich den Kämpfern angeschlossen. Er ist noch keine fünfzehn.«
»Es gibt viele tapfere junge Männer unter unseren Brüdern.«
»Er ist kein junger Mann. Er ist ein Kind.«
Thevaram tauschte einen Blick mit Rathinam.
»Ich werde den Kampf noch mehr unterstützen.«
Wieder tauschten die beiden Blicke. »Wie heißt er?«, fragte da plötzlich Rathinam.
Maravan gab ihm den Namen, Rathinam notierte ihn in ein Notizbuch.
»Danke«, sagte Maravan.
»Bis jetzt habe ich nur seinen Namen notiert«, antwortete Rathinam.
Dieses Treffen hatte zu Maravans Entschluss geführt, Andrea anzurufen.
Er war sich zwar nicht sicher, ob Thevaram und Rathinam auf Ulagus Schicksal Einfluss nehmen konnten, aber er wusste, dass der Arm der LTTE lang war. Er hatte von Asylbewerbern gehört, deren Spendebereitschaft von den Befreiungstigern mit kaum verhohlenen Drohungen gegen die zu Hause gebliebenen Angehörigen gefördert wurde. Wenn sie in der Lage waren, über diese Distanz das Leben von Menschen zu bedrohen, lag es vielleicht auch in ihrer Macht, es zu retten.
Maravan hatte keine Wahl. Die Chance, und sei sie noch so klein, dass die beiden etwas für Ulagu tun konnten, musste er ergreifen. Und das kostete Geld. Mehr, als er jetzt verdiente.
Im kalten Wohnzimmer roch es nach Heizöl. Maravan hatte lange gebraucht, um den Ölofen anzuzünden. Jetzt kniete er fröstelnd barfuß und im Sarong vor dem Hausaltar und machte seine Puja. Trotz der Kälte nahm er sich mehr Zeit dafür als sonst. Er betete für Ulagu und für sich, damit er die richtige Entscheidung traf.
Als er aufstand, stellte er fest, dass der Ofen ausgegangen und der Boden der Brennkammer von Öl überschwemmt war. Er machte sich an die verhasste Arbeit, das Öl mit Haushaltspapier aufzusaugen. Als er es endlich geschafft hatte und der Ofen wieder brannte, stanken Maravan und die ganze Wohnung nach Öl. Er öffnete die Fenster, duschte lange, zog sich warm an, machte Tee und schloss die Fenster.
Maravan zog den Stuhl vom Computer weg und zum Ofen hin. In seiner Lederjacke, die Teetasse dicht vor dem Oberkörper, saß er im schwachen Licht der Deepam, die noch immer vor dem Altar flackerte, und dachte nach.
Kein Zweifel, es war gegen seine Kultur, gegen seine Religion, gegen seine Erziehung und gegen seine Überzeugung. Aber er befand sich nicht in Sri Lanka. Er war im Exil. Da konnte man nicht leben wie zu Hause.
Wie viele Frauen der Diaspora gingen zur Arbeit, obwohl es doch ihre Aufgabe wäre, den Haushalt zu führen, die Kinder zu erziehen und die Traditionen und religiösen Bräuche zu pflegen und weiterzugeben? Aber hier mussten sie Geld dazuverdienen. Das Leben hier zwang sie dazu.
Wie viele Asylbewerber waren gezwungen, Arbeiten zu verrichten, die nur den untersten Kasten zustanden, Kochhilfen, Putzhilfen, Pflegehilfen? Die meisten, denn das Leben hier zwang sie dazu.
Wie viele Hindus der Diaspora mussten den Sonntag zum heiligen Tag der Woche machen, obwohl es doch eigentlich der Freitag war? Alle, das Leben hier zwang sie dazu.
Weshalb sollte also er, Maravan, nicht auch etwas tun, das zu Hause gegen Kultur, Tradition und Anstand verstoßen würde, wenn ihn das Leben im Exil dazu zwang?
Er ging zum Telefon und wählte Andreas Nummer.
»Wie sieht es aus?«, war Maravans erste Frage, als Andrea sich meldete.
Sie zögerte einen Moment mit der Antwort. »Ehrlich gesagt, ziemlich mies. Nach wie vor nur drei Bestellungen.«
Eine Weile war es still am anderen Ende. Dann
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