Der Köder
Gott»,
murmelte er. «Woher hat er die Narbe?»
«Sein Vater», sagte Jack. Seine Stimme war so leblos wie der
Mann neben ihm.
«Was?»
«Sein Vater hat ihm die Schnittwunde beigebracht, als Marty
noch ein Junge war.»
«Verdammt.» Gino schloss kurz die Augen und dachte daran, wie
viel Lebensgeschichte einen Menschen letztlich ausmachte, dass man nie alles über jemanden wusste und dass es überall Ungeheuer gab.
Er drehte sich um, als der Regen von einer besonders starken Bö
zur Türöffnung hineingepeitscht wurde und mit einem widerwärtig
schmatzenden Geräusch auf Martys bloße Haut traf. Ginos
Gedanken eilten zurück zum Beginn dieses Falls, zu Lily Gilbert, die die Leiche ihres Mannes aus dem Regen nach drinnen geschafft und
dadurch seinen so geschätzten Tatort kontaminiert hatte. Als er zu ihr schaute, wie sie da neben Magozzi stand, blickte auch sie gerade durch ihre dicken Brillengläser zu ihm herüber. Sie weinte nicht, sie sagte nichts, sie sah ihn nur an.
Gino blickte wieder hinunter auf Martys Gesicht, auf das der
Regen fiel, und verstand ein paar Dinge.
Magozzi zog eine Augenbraue in die Höhe, als er sah, wie Gino
in die Hocke ging, mit den Armen unter Marty Pullmans Schultern
und Knie griff, den Toten aufhob und aus dem Regen zum Sofa trug, wo er ihn sanft ablegte.
Als Gino sich umdrehte, sah Lily ihn noch immer an. Sie nickte
einmal und ging dann hinüber, um sich hinter Jack zu stellen. Sie legte ihm die Hände auf die bebenden Schultern, beugte sich vor, um ihn auf den Scheitel zu küssen, und flüsterte: «Komm, kümmere dich um deine Mutter. Ihr bricht das Herz.»
Chief Malcherson war innerhalb einer halben Stunde nach der
Schießerei eingetroffen, um mit den Ermittlungen zu beginnen. Er
nahm die Aussagen von Magozzi und Gino auf, ließ sich Magozzis
Waffe geben und leitete sämtliche Maßnahmen ein, die ergriffen
werden mussten, wenn ein Officer im Dienst tödliche Gewalt
angewendet hatte. Formal war Magozzi suspendiert, bis die
Dienstaufsicht die Umstände des Todes von Jeff Montgomery
geklärt hatte – Gino musste alle Berichte unterschreiben, die bis dahin abgefasst wurden –, aber Malcherson dachte keine Sekunde
daran, ihn nach Hause zu schicken. Erstens hätte Magozzi sich dem widersetzt, was zu einer unschönen und untragbaren Situation
geführt hätte, denn sie wären beide gezwungen gewesen, auf ihren
Positionen zu beharren, was der Untersuchung nur schaden konnte.
Zum anderen kannten und vertrauten die Gilberts ihm, und wenn es
einen Schlüssel gab, diesen Fall abzuschließen, dann besaßen ihn die Gilberts. Manchmal befolgte man die Vorschriften buchstabengetreu, und manchmal tat man es nicht. Malcherson blieb, während Jimmy
Grimm und sein Team die Spuren am Tatort sicherten, und entließ
Gino und Magozzi um zehn Uhr, damit sie mit den Gilberts sprechen konnten.
Sie folgten dem Kiespfad zwischen den Anzuchtbeeten zum
Haus. Kleine bunte Quarzsplitter funkelten und glitzerten trotz des heftigen Regens im Schein ihrer Taschenlampen. Wenigstens waren
die Blitze fürs Erste nach Osten abgewandert. Aber eine weitere
Reihe von Gewitterstürmen näherte sich von Westen – laut Jimmy
Grimm würde die Superzelle, die Minnesota die Unwetter bescherte, sie noch die ganze Nacht bedrohen –, aber es gab erst mal eine
Verschnaufpause, bevor die nächsten Stürme loslegten.
Lily empfing sie an der Hintertür. Sie trug trockene Hosen und
ein kurzärmeliges Hemd. Magozzi sah die sehnigen Muskeln ihrer
dünnen Arme und die Tätowierung über ihrem Handgelenk. «Haben
Sie Nachrichten über Officer Becker?», waren die ersten Worte aus ihrem Mund.
«Er wird durchkommen», sagte Gino. «Montgomery hat nicht auf
ihn geschossen, sondern ihm einen Schlag auf den Kopf versetzt.»
«Wohin hat man ihn gebracht?»
«Ins Hennepin County, glaube ich.»
«Ein netter Junge. Ich muss ihm Blumen schicken, bevor Sie uns
in Gefängnis bringen.»
Gino und Magozzi tauschten verdutzte Blicke aus. «Wir sind
nicht hier, um Sie ins Gefängnis zu bringen, Mrs. Gilbert.»
«Noch nicht, vielleicht. Kommen Sie herein. Wir haben auf Sie
gewartet.»
Sie führte die beiden in die Küche, wo Jack bereits am Tisch saß.
Er war inzwischen trocken und nüchtern und trug einen
altmodischen karierten Hausmantel, der bestimmt seinem Vater
gehört hatte. Die Ärmel waren mehrere Male umgekrempelt, was
Magozzi daran erinnerte, ein wie hoch gewachsener Mann Morey
Gilbert
Weitere Kostenlose Bücher