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Der König auf Camelot

Der König auf Camelot

Titel: Der König auf Camelot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.H. White
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Ähnlich ist’s mit der Welterfahrung.
Man kann sie einer jungen Frau nicht theoretisch beibringen. Im Lauf der Jahre
muß sie selbst dahinterkommen. Und dann, wenn sie anfängt, ihren verbrauchten
Leib zu hassen, dann entdeckt sie plötzlich, daß sie’s gelernt hat: daß sie
weiterleben kann – nicht vermöge eines Lehrsatzes, nicht dank einer
Schlußfolgerung, nicht aufgrund der Erkenntnis von Gut und Böse, sondern
einfach durch ein merkwürdiges und changierendes Gefühl für Balance, das häufig
aller Kriterien spottet. Sie hofft nun nicht länger, durch Suche nach Wahrheit
das Leben zu erringen (falls Frauen jemals derlei erhoffen), sondern lebt
fortan unter der Leitung eines siebenten Sinnes weiter. Das Gleichgewicht war
der sechste Sinn, den sie sich aneignete, als sie laufen lernte; und nun hat
sie den siebenten: Welterfahrung.
    Die
allmähliche Entdeckung des siebenten Sinnes, mit dessen Hilfe Männer wie Frauen
es fertigbringen, auf den Wogen einer Welt zu schwimmen, in der es Kriege gibt
und Ehebruch, Kompromisse, Angst, Blamagen und Geheuchel – diese Entdeckung ist
kein Anlaß zum Triumphieren. Das kleine Kind schreit vielleicht: Ich hab’s, das
Gleichgewicht! Den siebenten Sinn aber erfaßt man ohne Jubelschrei. Mit dieser
unserer berühmten Welterfahrung oder Weltklugheit schwimmen wir nur weiter auf
den wunderlichen Wellen des Lebens, wie gewohnt; denn wir haben ein Stadium der
Erstarrung erreicht, einen toten Punkt, wo uns nichts anderes mehr einfällt.
    Und
in diesem Stadium nun beginnen wir zu vergessen, daß es jemals eine Zeit gab,
da wir keinen siebenten Sinn hatten. Stumpfsinnig treiben wir weiter in
schwankender Balance und vergessen, daß es eine Zeit gegeben haben könnte, da
wir junge Leiber waren, lodernd vor Lebenslust. Es ist kaum tröstlich, sich
eines solchen Gefühls zu erinnern – deshalb stirbt es langsam ab.
    Doch
es gab einmal eine Zeit, da jeder von uns nackt vor der Welt stand, dem Leben
konfrontiert, als einem ernsten Problem, das uns zutiefst und leidenschaftlich
betraf. Es gab eine Zeit, da es für uns von lebenswichtigem Interesse war,
herauszufinden, ob es einen Gott gibt oder nicht. Die Möglichkeit oder Existenz
eines künftigen Lebens ist zwangsläufig von allergrößter Bedeutung für
jemanden, der sein gegenwärtiges, hiesiges Dasein erst zu durchleben hat; denn
sein Lebensstil hängt von dieser Frage ab. Es gab eine Zeit, da die Kontroverse
zwischen freier Liebe und katholischen Moralbegriffen für unsre hitzigen Körper
so akut war wie, sagen wir, ein Pistolenlauf an der Schläfe.
    Noch
weiter zurück gab es Zeiten, da wir uns aus tiefster Seele fragten, was die
Welt sei, was die Liebe, was wir selber seien.
    All
diese Probleme und Gefühle verblassen, sobald wir in den Besitz des siebenten
Sinnes gelangen. Menschen in mittlerem Alter bringen ohne weiteres den
Balanceakt fertig, an Gott zu glauben und gleichzeitig alle seine Gebote zu
übertreten. Ja, der siebente Sinn tötet allmählich alle anderen ab, so daß es
schließlich keine Schwierigkeiten mit den Geboten mehr gibt. Wir sehen und
spüren und hören nichts mehr von ihnen. Die Leiber, die wir liebten, die
Wahrheiten, die wir suchten, die Götter, die wir in Frage stellten: jetzt sind
wir ihnen gegenüber taub und blind, da wir routiniert und automatisch dem
unausweichlichen Grab entgegenbalancieren, geschützt und geleitet von unserem
letzten Sinn. Thank God for the aged, sagt der Dichter.
     
    Thank
God for the aged
    And
for age itself, and illness and the grave.
    When
we are old and ill, and particularly in the coffin,
    It
is no trouble to behave.
     
    Ginevra war erst
zweiundzwanzig, als sie über ihrer Stickerei saß und an Lanzelot dachte. Sie
hatte den Weg zum Sarg noch nicht mal zur Hälfte zurückgelegt, war nicht mal
krank – und hatte nur sechs Sinne. Es fällt nicht leicht, sie sich
vorzustellen.
    Ein
Chaos des Leibes und der Seele; Tränen bei Sonnenuntergang und im Schimmer des
Mondscheins; Glaube und Hoffnung in verwirrender, überströmender Fülle: nach
Gott verlangend, nach Wahrheit, Liebe, Ewigkeit; eine Fähigkeit, sich anrühren,
sich hinreißen zu lassen von der Schönheit der Dinge; ein Herz, bereit, im
Schmerz sich zusammenzupressen, vor Freude anzuschwellen: himmelhoch jauchzend
und zu Tode betrübt; Ekstasen und Depressionen, durch Ozeane voneinander
getrennt. Dann, im Gegensatz zu diesen reizvollen Zügen: Ausbrüche von
Selbstsucht, peinlich zur Schau gestellt;

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