Der König der Diamanten
Mund schob oder wie es um ihn herum aussah.
Außerdem hatte sie nach langer, so wie es ihr vorkam, unendlich langer Zeit wieder mit dem Malen begonnen. Sie nutzte nach Arbeitsende die langen Sommerabende und fuhr mit dem Fahrrad ins Grüne, hinaus zur Port Meadow, die Staffelei zusammengeklappt auf dem Rücken, Wasserfarben und Papier in einer Leinentasche am Lenker baumelnd. Früher war sie einmal richtig gut gewesen, zumindest hatte das ihr Zeichenlehrer auf der Kunstakademie gesagt, die sie nach dem College noch ein Jahr lang besucht hatte, und sie hatte viel Freude an den Skizzen gehabt, die sie in den sonnendurchtränkten Ferien in Frankreich und Italien angefertigt hatte, damals, mit Bill, in den ersten Jahren ihrer Ehe. Eigentlich wusste sie gar nicht, warum sie überhaupt damit aufgehört hatte. Aus Mangel an Zuspruch vielleicht? Was immer der Grund gewesen sein mochte: Titus’ Ermutigungen hatten dafür gesorgt, dass sie wieder angefangen hatte. Sie hatte ein oder zwei ihrer alten Bilder an den Wänden der kleinen Wohnung hinter dem Keble College aufgehängt, und bei seinem ersten Besuch hatte er voller Bewunderung davorgestanden und nach dem Namen des Künstlers gefragt. Und als er dann erfuhr, dass sie selbst das war, hatte er darauf bestanden, ihr einen Laden für Künstlerbedarf zu zeigen, den er in einer kleinen Seitengasse der George Street kannte, und ihr die Utensilien zu schenken, die nötig waren, um mit der Malerei wieder beginnen zu können.
»Es grenzt schon an ein Verbrechen«, hatte er in einem Tonfall gesagt, der keinen Widerspruch duldete, »ein derartiges Talent verkommen zu lassen.«
Und seither hatte sie nicht zurückgeblickt. Das Malen machte sie glücklich, und wenn sie malte, dachte sie an Titus.
Vanessas Bilder hingen jetzt in der ganzen Wohnung und erfüllten sie mit Farbe und Leben. Die Wohnung war gerade groß genug für Vanessas Bedürfnisse, doch sie hatte sie im Lauf der Zeit richtigliebgewonnen. Sie hatte sie unmöbliert gemietet und dann trotz ihrer Geldknappheit das Mobiliar Stück für Stück selbst erworben. Die Arbeit, die sie vorübergehend angenommen hatte – als Sekretärin und Assistentin eines überarbeiteten Professors an der Universität, Fachbereich Englische Literatur –, diese Arbeit war schlecht bezahlt, doch mittlerweile genoss sie es, mit fast nichts in der Tasche einkaufen zu gehen und immer wieder Schätze in Secondhand-Läden zu entdecken, von denen sie noch nie gehört hatte, in Ecken, in denen sie noch nie gewesen war. Sie hatte sich ihr Zuhause selbst geschaffen und war stolz darauf. Natürlich war ein himmelweiter Unterschied zwischen ihrer Bleibe und dem Luxus von Blackwater Hall, aber Titus schien sich sehr wohlzufühlen, wenn er auf Besuch kam.
Er schaffte es, ihr das Gefühl von etwas Besonderem zu geben, und in seiner Gegenwart war sie langsam wieder zum Leben erwacht. Drei Jahre waren mittlerweile seit Joes Tod vergangen, und immer noch spürte sie den Schmerz. Doch so allgegenwärtig er auch war, hatte er jetzt immerhin ein wenig nachgelassen. Nach dem Unfall hatte sie mehr als ein Jahr lang das Gefühl gehabt, alles sei ohne jeden Sinn. Jeder Tag war von einem trüben, grauen Schleier überzogen gewesen. Mehr als einmal hatte sie über Selbstmord nachgedacht und sich sogar die Vor- und Nachteile einzelner Vorgehensweisen überlegt, mit denen sie ihrem Schmerz ein Ende setzen konnte. Jetzt wurde ihr allerdings klar, dass es ihr damit nicht wirklich ernst gewesen war. Ihr Wille zum Überleben war einfach zu stark. Anfangs hatte er zwar bedrohlich geflackert, wie eine Kerze, doch eine ernsthafte Gefahr hatte nie bestanden. Und ihre Wut auf das Schweigen ihres Mannes, auf seine Weigerung, wenigstens zu versuchen, das Geschehene hinter sich zu lassen, war in gewisser Weise das erste Anzeichen ihrer Genesung. Titus war genau in dem Moment aufgetaucht, als ihre Sehnsucht nach Leben endlich wieder stärker war als das Gefühl der Schuld, am Leben zu sein. Und jetzt war sie auf dem besten Weg, sich zu verlieben.
Kapitel Drei
»Du darfst sie einfach nicht an dich ranlassen, Davy. Darum geht es. Weder die, die dich hier reingebracht hat, noch diese Scheißwärter oder die anderen Knackis. Denk immer dran: Es ist dein Leben, nicht ihres. Und so soll das auch bleiben.«
Wie jeden Abend seit zwei Wochen lag David Swain auf dem Rücken und lauschte der Stimme von Eddie Earle, die von der Pritsche über ihm zu ihm herunterdrang. Und wie immer
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