Der König der Diamanten
ihr unglaublich schwer, den endgültigen Bruch mit ihrer Vergangenheit zu machen, der jetzt erforderlich war. Sie hatte das Gefühl, als würde sie sich mit diesem Schritt nicht nur von ihrem Mann verabschieden, sondern auch von ihrem toten Sohn. Eine Scheidung war nicht nur ein Eingeständnis des Versagens, sondern auch ein Akt der Grausamkeit. Sie war nicht in der Lage gewesen, darüber mit Titus zu reden, als er vor zwei Tagen bei einem Dinner in Oxford höflich, aber bestimmt nachfragte, warum sie immer noch nichts unternommen hätte. Jetzt merkte sie, dass, je länger sie wartete, die Angelegenheit immer schlimmer wurde. Deshalb griff sie quasi unmittelbar nach dem Aufstehen zum Telefonhörer.
Nach dem zweiten Klingeln hob Trave ab, und für einen Moment wusste Vanessa nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte seit Monaten nicht mit ihrem Mann gesprochen, und jetzt plötzlich seine Stimme zu hören, warf sie völlig aus der Bahn. Sie sagte ihren Namen, und es gab ihr einen Stich, dass er sich über ihren Anruf zu freuen schien.
»Kann ich dich sehen?«, fragte sie. Sie wusste, dass sie ihm das, was sie zu sagen hatte, nicht am Telefon mitteilen konnte. Wie sie schon Titus gesagt hatte, war es das Mindeste, was er verdient hatte.
»Gleich?«, fragte er. »Am Nachmittag muss ich in London sein.«
»Gut«, sagte sie und war doch überrascht. Aber so war es ja auchviel besser, dachte sie – eine Amputation hatte man schnell zu machen oder gar nicht. Und sie musste ja ohnehin erst um zehn bei der Arbeit sein.
Sie nannte ihm ein Café in der St. Michael’s Street – einen neutralen Ort, an dem sie sich noch nie getroffen hatten – und merkte beim Auflegen des Hörers, dass ihre Hand zitterte.
Sorgfältig wählte sie ihre Kleidung aus. Ihr war eigentlich danach, Schwarz zu tragen, doch schließlich entschied sie sich für ein schlichtes, graues Kleid, das sie erst vor kurzem in einem Secondhandgeschäft gekauft hatte. Darüber trug sie ihren alten schwarzen Mantel. Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie die beiden Ringe an ihren Fingern: an der rechten Hand den einfachen Goldring, an der linken den mit dem wunderschönen Diamanten – der eine von Bill, der andere von Titus. Himmelweit voneinander entfernt, aber doch in dauerndem Konflikt. Langsam und vorsichtig streifte sie beide Ringe von den Fingern und legte sie in ein kleines Schmuckkästchen an ihrem Bett. Heute würde sie nur sie selbst sein.
Trave wartete schon, als Vanessa das Café betrat, und er bestand darauf, ihr an der Theke einen Kaffee zu holen, während sie sich an den Tisch am Fenster setzte, auf dem sein halbvoller Becher dampfte. Von Minute zu Minute fühlte sie sich elender. Sie wünschte sich, es gäbe für Zusammenkünfte dieser Art festgelegte Regeln: Schließlich war sie hergekommen, um ihrem Mann zu sagen, dass sie die Scheidung wollte, und nicht, um Kaffee zu trinken. Und dennoch saß sie hier inmitten einer Horde von Frauen mit Einkaufstüten, als würde sie nur einen alten Freund treffen. Sie hatte einen Fehler gemacht. Besser wäre ein nüchterner Ort gewesen, im hinteren Teil einer Kirche etwa, oder irgendwo in einer Bibliothek. Dafür war es jetzt zu spät.
Als Trave sich zu ihr setzte, bekam Vanessa fast einen Schreck.Wie schlecht er aussah! Er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und sein Anzug war verknittert – als hätte er ihn seit Wochen nicht mehr aufgehängt. Und irgendwie hatte sie den Eindruck, dass diese Nachlässigkeit sich nicht nur auf sein Äußeres beschränkte. Er wirkte gealtert, als hätte er etwas erlebt, von dem sie nichts wusste.
»Das mit deinem Job tut mir leid«, sagte sie. Es stimmte, dennoch klangen ihre Worte peinlich und aufgesetzt.
»Es ist völlig gleichgültig«, sagte er, obwohl das ganz offensichtlich nicht stimmte. »Man kann nicht sein Leben lang Kompromisse eingehen. Ich werde etwas anderes finden.«
»Was denn?«, fragte Vanessa und war ehrlich neugierig. Sie konnte sich Bill nur als Polizist vorstellen, nicht anders.
»Etwas«, sagte er mit einem traurigen Lächeln. »Du siehst umwerfend aus, Vanessa. Besser als seit Jahren.«
Sie wurde rot und war gleichermaßen gerührt und bestürzt über die aufrichtige Freude in seiner Stimme. Außerdem irritierte sie die Intensität, mit der er sie ansah. Es war, als wolle er sich jede Einzelheit ihres Gesichts einprägen. Dieses Treffen war schmerzhaft, viel schmerzhafter, als sie es sich vorgestellt hatte. Sie musste ihm jetzt unbedingt
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