Der König der Diamanten
verspürte er eine seltsame Mischung aus Irritation und Dankbarkeit. Irritation, weil Eddie ihn ohne Unterlass Davy nannte – was niemand zuvor je getan hatte und was David überhaupt nicht mochte – und weil Eddie ihm offenbar nicht oft genug sagen konnte, wie er sein Leben leben müsse. Dankbarkeit hingegen, weil Eddie ihm ein Gefühl von Sicherheit gab, welches er seit dem Tag vermisst hatte, an dem er vor zwei Jahren verhaftet und ins Gefängnis gesperrt worden war.
Mit dem Urteil war dann alles schlimmer geworden – noch schlimmer. Der Richter hatte einen Schlussstrich gezogen, hatte ihn einen Feigling genannt, einen hinterhältigen Mörder, hatte ihn auf Lebenszeit eingebuchtet. Und auf einmal war David nurmehr eine Nummer, ein Gegenstand, den man ohne jede Erklärung verschieben konnte, von Zelle zu Zelle, von Flügel zu Flügel, von Gefängnis zu Gefängnis, bis er da landete, wo es begonnen hatte – im Gefängnis von Oxford. Tage, Monate, Jahre furchtbaren Essens und endlosen Wartens in kalten Gängen, der in winzigen, luftlosen Zellen angestauten Langeweile und Klaustrophobie, hatten David zurück an den Ausgangspunkt gebracht.
Es überraschte ihn nicht, wieder in Oxford gelandet zu sein. Es gab ohnehin nicht mehr viel, was ihn überraschte. Gefängnis war immer grausam, und hier, eingesperrt im Zentrum seiner Heimatstadt,war es nur ein kleines bisschen grausamer als sonstwo. Mehr nicht. Ein paar hundert Meter entfernt, jenseits der meterhohen, mit Stacheldraht gekrönten Backsteinmauer, befand sich die Welt, die er zurückgelassen hatte und die sich von seiner Abwesenheit völlig unbeeindruckt zeigte. Morgens konnte er die Glocken vom Magdalen Tower läuten hören, und nachmittags konnte er vom Gefängnishof aus die Spitzen der umliegenden Kirchen sehen. So nah und doch so fern – welch wunderbares Folterinstrument war diese Gegenwart der Außenwelt.
Und er hatte sich verändert, war nicht mehr der, der er bei Haftantritt gewesen war. Immer weniger schaffte er es, der Verzweiflung Herr zu werden, die ihn von innen auffraß. Rein körperlich hatte er überlebt. Es hatte hie und da einen Stoß gegeben, Schläge, ein paarmal sogar Tritte, aber die hatte er weggesteckt. Und er hatte noch Glück gehabt. David wusste sehr wohl, dass dumpfe Gewalt hinter jeder Ecke lauerte – weiß Gott, er hatte oft genug zusehen müssen. Aber bislang hatte er schlimme Erlebnisse vermeiden können, indem er den Kopf gesenkt hielt, nicht widersprach, sich aus allem heraushielt.
Seelisch sah das aber ganz anders aus. Mit der Zeit hatte er gelernt, die Willkür des Gefängnisdaseins hinzunehmen: die endlosen, kleinlichen Regeln, die nur existierten, um gebrochen zu werden, den Mangel an Wahlmöglichkeit. Und er hatte versucht, sich an die seltsame Kombination von Lärm und Isolation zu gewöhnen, diese Zwillingsbegleiter seiner endlos langen Tage und Nächte. Doch innerlich war ihm jede Hoffnung, jeder Sinn abhandengekommen. War er zum Zeitpunkt der Verhaftung mental ohnehin schon angebrochen gewesen, hatte sich sein Selbstbewusstsein mittlerweile in Luft aufgelöst, und die Wut und die Verzweiflung, die in ihm tobten, wurden nur mehr durch Furcht im Zaum gehalten. Er sehnte sich nach jemand, an dem er sich beim Sinken festhalten konnte, und da tauchte eines Tages, ganz plötzlich und unerwartet, ein Freund auf. Sein Name war Eddie Earle.
Lächelnd erinnerte sich David an den Tag, an dem sein neuer Genosse in die Zelle gekommen war. Er war mehr als eine Woche alleine gewesen, nachdem O’Brien, der vorige Inhaber der oberen Pritsche, in den Strafblock im D-Flügel verlegt worden war – er hatte im Freizeitraum einen anderen Insassen mit dem Billardqueue attackiert. O’Brien war kein schlechter Zellengenosse gewesen. Er war groß, schweigsam und religiös, hatte die gewaltige Stirn immer in Falten gelegt und ihm einmal ein Buch mit dem Titel
Jesus für Häftlinge
in die Hand gedrückt. David hatte bislang nicht mehr als den ersten Absatz gelesen, aber die Geste imponierte ihm. Geschenke waren nicht an der Tagesordnung im Königlichen Gefängnis von Oxford.
O’Briens Problem war seine aufbrausende Art. Die war der Grund für seine Verurteilung gewesen. Und er hatte einen Feind im B-Flügel, der ihn wochenlang provoziert hatte. Es ging irgendwie um zu viel Essen in der Kantine, um irgendetwas Blödes, dennoch hätte O’Brien nicht darauf reagieren dürfen. Er war einfach selbst schuld. Und seine Verlegung hatte für
Weitere Kostenlose Bücher