Der König Der Komödianten: Historischer Roman
es aussieht. In Wahrheit ist es ein Sammelband, der Großvater gehört, und drinnen sind das Decamerone von Boccaccio, eine Gedichtsammlung von Petrarca und die Divina Commedia von Dante. Nur am Anfang steht ein Stück aus der Bibel, der Rest ist unterhaltsame Lektüre. Irgendwann hat Großvater das so für sich binden lassen.« Sie räusperte sich. »In ein oder zwei Städten, wo er früher war,gab es wohl Ärger mit der Inquisition. Für diese Fälle hatte er das dicke Buch. Das ließ man ihm auch im Gefängnis, und so hatte er ein Mittel gegen die Langeweile.«
»Er war hinter Gittern?«
»Nie lange, wenn man ihm glauben darf. Außerdem muss das vor meiner Geburt gewesen sein. Ich selbst kann mich jedenfalls nicht daran erinnern.«
»Theoretisch könnte es also auch hier in Venedig gewesen sein?«
»Woher soll ich das wissen? Ich war ja nicht dabei, und er hat stets alles Vergangene vergessen, wenn man Näheres darüber wissen will.« Sie blickte sich um, während wir die Rialtobrücke erreichten. »Wo gehen wir eigentlich hin?«
»Zu dem Badehaus, in dem wir gestern waren.«
Sie nickte. »Es ist vernünftig, dort zu suchen.« Zusammenhanglos fügte sie hinzu: »Fandest du den Kuss sehr schrecklich?«
Ich stolperte über eine der flachen Treppenstufen und wäre beinahe mitten auf der Rialtobrücke hingeschlagen.
Bevor ich eine Antwort geben konnte, fuhr Elena fort: »Ich musste wissen, wie es ist. Darum tat ich es.«
Mir entwich ein unartikuliertes Geräusch, aber eigenartigerweise verstand Elena sofort, dass es eine Frage sein sollte.
» Warum ich es wissen wollte? Nun, ganz einfach: Ich soll doch die Rolle der Aurelia spielen. Und wie kann ich glaubwürdig einen Kuss spielen, wenn ich es noch nie zuvor ausprobiert habe?«
»Äh … Ach so.«
»Natürlich hätte ich es auch bei Bernardo ausprobieren können, denn er wird ja den Leandro verkörpern, folglich muss ich ihn auch im Stück küssen. Aber erstens riecht er die meiste Zeit nach Schnaps, und zweitens kennt er die Rolle nicht so gut wie du. Schließlich bist du der Autor, und niemand steht dem Stück jemals näher als der, der es schreibt. Also lag es nahe, dass ich mich an dich wandte.«
Die Logik hinter diesen Ausführungen wirkte bestechend, weshalb es nachgerade seltsam war, dass Elenas Erklärung mich in hohem Maße irritierte. Doch wie ich es auch drehte und wendete – ich kam nicht darauf, woran es lag. Vielleicht hing mein Unvermögen, klar zu denken, damit zusammen, dass sie abermals das enge Kleid trug. Oder dass sie schon wieder die Haube vom Kopf gezogen hatte.
»Ich glaube nicht, dass ich es richtig gut gemacht habe«, sinnierte sie.
»Was?«, fragte ich geistesabwesend, den Blick auf eine vorwitzige Locke gerichtet, die sich in ihrem Ausschnitt ringelte.
»Das Küssen«, sagte sie. »Sicher war es ziemlich stümperhaft und der Aurelia unangemessen. Wie würdest du das beurteilen?«
Ich stolperte erneut und stieß dabei gegen einen Bettler, der vor einer Hauswand hockte und die Hand aufhielt. Er bedachte mich mit unflätigen Beschimpfungen, während ich ihm half, die paar Münzen einzusammeln, die bei dem Zusammenprall zu Boden gefallen waren.
»Ich weiß nicht«, stieß ich als Antwort auf Elenas Frage hervor.
» Ich aber!«, rief der Bettler erbost. »Du bist ein übler Hurenbock, das bist du! Immer die Finger unter den Röcken willfähriger Weiber, sonst kannst du nichts!«
Hastig weitergehend, tat ich so, als hätte ich diesen Anwurf nicht gehört, während Elena sich eilig den Ausschnitt ihrer Bluse höher zog und die Haube überstülpte. »So ein unhöflicher alter Mann!«, sagte sie entrüstet.
»Er war nur wütend, weil sein Geld runtergefallen ist.«
»Ja, du hast recht. Sicher wollte er uns nicht beleidigen.« Elena räusperte sich und erklärte unvermittelt. »Also, nachdem auch du es stümperhaft fandest, sollten wir es nicht dabei belassen, was meinst du?«
»Äh … bei was belassen?«, fragte ich begriffsstutzig.
»Bei dem einen unzureichenden Versuch. Ich möchte das Küssen auf alle Fälle noch besser beherrschen, bevor ich damit auf die Bühne gehe.« Eilig fügte sie hinzu: »Nicht, dass du denkst, ich sei … willfährig! Es ist eine rein schauspielerische Angelegenheit!«
Ich nickte einfältig, während mir heiß das Blut in alle möglichen Körperteile schoss bei der Aussicht, wir könnten uns noch einmal küssen, schauspielerisch oder sonst wie.
»Es sollte dunkel sein, damit niemand uns dabei
Weitere Kostenlose Bücher