Der König der purpurnen Stadt: Historischer Roman (German Edition)
Rinnsal entlang des Schlüsselbeins und fragte sich verwundert, was das sein mochte, ehe ihr aufging, dass Jonah weinte. Ohne einen Laut, aber seine Schultern begannen zu zucken, so als würde er von Krämpfen geschüttelt.
Sie hielt ihn, aber sie rührte sich nicht und sagte vor allem nichts. Sie wollte ihn nicht stören, denn sie wusste, welche Mühe es ihn kostete, Tränen zu vergießen. Dass es ihn immer mehr beschämte als erleichterte.
Darum dauerte es auch nie lange. Als sie spürte, dass ihre Haut nicht mehr nasser wurde und seine Schultern sich langsam entspannten, wappnete sie sich und fragte: »Crispin?«
Er nickte.
Sie schloss die Augen. »Oh, lieber süßer Jesus …«
»Und die Flemings. Und die halbe verdammte Stadt.«
»Erzähl es mir, Liebster.«
Und das tat er.
Wie üblich war Königin Philippa hingerissen von dem Tuch, das Jonah ihr mitgebracht hatte. Dieses Mal war es ein glattes Kammgarn von der Farbe reifer Orangen und dazu drei Dutzend verspielter silberner Zierknöpfe von unanständiger Größe. Sie debattierten wie eh und je angeregt über die Frage, ob und zuwelchem Anlass man etwas so Gewagtes tragen könne, aber sie waren beide nicht recht mit dem Herzen bei der Sache.
»Jetzt, da der schwarze Tod vorüber ist, scheint die Lust auf leuchtende Farben nur noch gewachsen zu sein, Madame«, berichtete Jonah.
Philippa gab die Verstellung auf und ließ die Hände mit dem grellen Tuch in den Schoß sinken. »Ja. Wir tun, was wir können, um das Grauen zu vergessen und um uns zu beweisen, dass unsere Lebensfreude ungebrochen ist, nicht wahr.«
Er hob leicht die Schultern und nickte zögernd. »Es wird nur nichts nützen.«
»Nein.«
Sie sahen sich einen Moment in die Augen. Philippas schmerzlichster Verlust war eines der ersten englischen Pestopfer gewesen, seiner eines der letzten. Somit hatte sie über ein halbes Jahr Vorsprung in ihrer Trauer, falls es so etwas geben konnte. Aber Jonah wusste aus eigener bitterer Erfahrung, dass der Tod eines Kindes schmerzlicher war als jeder andere.
»Nichts ist mehr so, wie es war«, sagte sie beinah brüsk. »Keiner von uns. Aber wir können es uns nicht leisten, die Häupter mit Asche zu bedecken und zu verzagen. Denn unsere Sorgen sind noch lange nicht vorbei. So viele Bauern sind gestorben, dass nur die Hälfte der Felder bestellt wird. So viel Vieh ist verendet. Auch wenn die Bevölkerung geschrumpft ist, wird die Ernte nicht reichen, um sie satt zu machen, und wir müssen verhindern, dass die Preise in die Höhe schnellen.«
»Und die Löhne«, fügte Jonah hinzu. »Denn Arbeitskräfte sind ebenfalls knapp geworden. Und eine allgemeine Inflation ist das Letzte, was uns fehlt. Das Leben geht weiter, wie die unerschütterlich Zuversichtlichen so gern sagen, darum wird auch der Krieg früher oder später weitergehen, und schon allein dafür müssen wir wirtschaftlich stabil bleiben, weil wir ihn sonst verlieren könnten.«
Sie nickte versonnen. »Das wollen wir dem König lieber verschweigen, aber Ihr habt natürlich Recht. Wir müssen ihn überzeugen, die Preise und Löhne per Gesetz festzuschreiben.«
Ehe Jonah widersprechen konnte – denn wie allen Kaufleuten war ihm die Vorstellung gesetzlich festgeschriebener Preise äußerst suspekt –, öffnete sich die Tür, und Giselle kam mit einer ganzen Schar Kinder herein. Das kleinste hielt sie auf dem Arm und brachte es zu seinem Vater.
»Samuel!« Jonah nahm seinen Jüngsten entgegen. »Du kommst mir doppelt so groß vor.«
Samuel war knapp achtzehn Monate alt und schien nicht gänzlich sicher zu sein, wer dieser Mann mit dem schwarzen Bart war, aber als Jonah ihn durch die Luft wirbelte, verwandelte seine skeptische Miene sich in einen Ausdruck puren Entzückens. Jonah lachte leise. Das hatte schon bei Lucas immer funktioniert.
»Wo ist Lucas?«, fragte er Giselle, aber ehe sie antworten konnte, löste Elena sich aus dem Knäuel von Prinzen, Prinzessinnen und sonstigen hochwohlgeborenen Kindern und trat zu ihm. Er gab seiner Frau den Benjamin zurück, hob stattdessen seine Tochter kurz zu sich hoch und küsste sie auf die Stirn, ehe er sie wieder auf die Füße stellte. Artig erkundigte sie sich nach seinem Befinden. Sie war nicht mehr so ungestüm wie noch vor dem Winter, fiel ihm auf, beinah schon eine kleine Dame.
»Wo ist Lucas?«, wiederholte er und fügte dann hinzu: »Und Philip?«
»Philip ist im Backhaus und weint«, berichtete Elena getreulich. »Wegen Onkel
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