Der Koenig geht tot
bandagierte nun seit etwa zehn Minuten, um das Gespräch bloß nicht aus dem Tritt zu bringen. Wenn sie nicht bald aufstände, würde ihr Rücken durchbrechen, und das Pferd würde fragen, ob das ihr erster Verband seit dem Studium wäre.
»Der Bernhard war schon ziemlich aufgebracht und hat den Wilfried zur Schnecke gemacht. Er hat dem König so eine richtige Abfuhr erteilt – nach dem Motto: Was willst du überhaupt von mir.«
»Wie geschickt!« Alexa fand sich so schrecklich, daß sie sich insgeheim schwor, nie wieder einen Psychotest in einer Frauenzeitschrift mitzumachen.
»Ich fand seine Reaktion auch in Ordnung. Ist ja klar, daß er sich nicht vom König runtermachen lassen wollte. Der Bernhard ist schließlich ein echter Kerl.«
Alexa stellte fest, daß zwei Drittel ihres Blutes sich inzwischen in ihrem Kopf befinden mußten. Wenn sie nicht sogleich aufstand, würde er platzen und der Box eine unnatürlich rote Farbe verleihen.
»Es ist wirklich kein Wunder, daß der Bernhard zum Fähnrich gewählt worden ist«, schwärmte Beate. »Er sieht einfach zu schnuckelig aus in seiner Uniform.«
Alexa stand auf und betrachtete den Verband, der aufgrund der Länge der Zeit zu einem echten Meisterstück geworden war.
»Sieht gut aus!« lobte sie sich selbst. Beim strahlenden Weiß des Verbandes kam sie nicht umhin, an weiße Uniformhandschuhe zu denken.
10
In meiner Freistunde am Dienstagmorgen blieb ich nach dem Kopieren meistens bei Schwester Gertrudis im Sekretariat hängen.Bei Mandelsplitterplätzchen und einer Tasse Kaffee erzählten wir uns dann das Neueste vom Tage. Schwester Gertrudis war eingefleischter Borussia Dortmund-Fan und hatte am Dienstag meistens das Ergebnis vom Samstag noch nicht verarbeitet. In diesen Stunden stand ich ihr dann hilfreich zur Seite und verbreitete die Hoffnung, daß demnächst wieder bessere Zeiten kämen, in denen die hochbezahlten Stars ein Fußballspiel nicht mehr nur als Gelegenheit betrachteten, um ihre Sportschuhe auszuführen. Doch heute wollte Schwester Gertrudis mit mir kein Fußballergebnis diskutieren. Genauso wenig wollte sie mir ein neues Computerspiel vorführen. Nein, heute war Schwester Gertrudis allein am Fall Stichlingsen interessiert. Der ›Fall Stichlingsen‹.
Schwester Gertrudis formulierte es tatsächlich so, als wäre sie das Landeskriminalamt und wolle sich über verschiedene Fälle in der Region einen Überblick verschaffen. Daß es sich bei dem Tod von Wilfried König um Mord handelte, stand dabei von Anfang an ganz außer Frage. Zum einen, weil der Fall als Unfall nur halb so interessant gewesen wäre. Zum anderen, weil Schwester Gertrudis die Meinung vertrat, daß ein Sauerländer sich nicht so betränke, daß er Probleme hätte, sich auf den Beinen zu halten. Außerdem wäre es mehr als Zufall, wenn der betrunkene Sauerländer dann auch noch gerade mit dem Kopf auf einen Stein fiele, wo er doch genauso gut in weiches Gras hätte stürzen können.
Schwester Gertrudis’ Argumentation war nicht an allen Ecken schlüssig, aber sie war so in ihrem Element, daß ich sie nicht unterbrechen wollte. Im Moment beschäftigte sich die Sekretariatsnonne eingehend mit der Tötungsart.
»Da!« Sie knallte mir ein Exemplar der Zeitung » Psychologie aktuell « hin, das sie sich ganz offensichtlich aus der Lehrerbibliothek ausgeliehen hatte.
»Da steht’s!« Ich wußte nicht, worum es gehen sollte.
»Die Tötungsart läßt messerscharfe Rückschlüsse auf den Täter zu!« Schwester Gertrudis verschränkte die Arme vor ihrer Brust, um zu signalisieren, daß ihr Ansatz unumstößlich war.
»Ich verstehe nicht ganz«, wagte ich einzuwenden. »Meinen Sie, daß ein Täter, der sein Opfer auf einen Stein schlägt, unter Umständen sein ganzes Leben in einem Steinbruch gearbeitet hat?« Ich wollte gerade anführen, daß ich diese Möglichkeit für gar nicht so unwahrscheinlich erachtete, gerade im Hinblick darauf, daß wir von Steinbrüchen nahezu umgeben waren, doch Schwester Gertrudis wischte meine Gedanken vom Tisch.
»Unsinn! Das ist natürlich eher tiefenpsychologisch gemeint! Ein Täter wählt für sein Opfer eine Tötungsart, die seinem Motiv gerecht wird, verstehen Sie?«
Ich ließ meiner Phantasie freien Lauf. Wie wär’s mit dem Schüler, der seinen Geschichtslehrer nach dem Abitur am Kartenständer erhängt, um seine Rachegelüste zu befriedigen? Originell fand ich auch den Tierarzt, der gezwungen wird, eine Überdosis Tiermedizin zu schlucken,
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