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Der König muß sterben

Der König muß sterben

Titel: Der König muß sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Espen
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seitdem ein Gleichgewicht zwischen Ost und West vor, ein universeller Frieden, der die Schöpfung besänftigt hätte, ein geistiges Band zwischen den Regierungen und Ländern von Europa. Vielleicht war es diese Vision, die uns ins Verderben stürzte! Denn sie hätte alsbald verwirklicht werden können durch unsere weit verstreuten Besitzungen, die wie Regierungssitze über ganz Europa verteilt waren, unsere finanzielle Macht, unsere Erfahrungen in allen Schlachten und aus fast zwei Jahrhunderten Überlieferung und Gedächtnis.«
    »Aber ihr wart zu leichtsinnig.«
    »Und zu naiv. Wir unterschätzten die Angst bei den Königen und in der Kirche. Sie sahen in uns eine Gefahr. Und hatten sie nicht Recht? Hätten wir rechtzeitig gehandelt, wäre die Welt auf den Kopf gestellt worden. Der König? Der Papst? Randfiguren der Geschichte! Nein, wir mussten beseitigt werden. Denn wir hätten eine ganz andere Welt aufgebaut. Allerdings eine weit bessere als jetzt. Eine friedliche, eine versöhnte.«
    »Welch eine wunderbare Vorstellung!«
    »Ja, aber Philipp hat dieser Vorstellung die Lebensgrundlage entzogen. Er hat sie in Blut ertränkt.«
    »Kann ein solcher Herrscher, den man den Schönen nennt, so grausam sein?«
    Henri lachte bitter. »Der Schöne! Philipp sieht in Wahrheit mit seinem runden Gesicht und seinem starren Blick aus wie eine Eule. Das einzig Schöne an ihm ist vielleicht sein goldblondes Haar. Jedenfalls ist er ein Dunkelmann, der den makabren Tanz um den Tempel anführt. Er muss beseitigt werden, denn an seinen Händen klebt das Blut Unschuldiger.«
    »Und der Papst?«
    »Er hätte uns verteidigen müssen, dazu stand er im Wort. Anfangs schien er sich auch noch zu wehren gegen diese jedem Recht hohnsprechende Gewalt. Aber dann verfiel auch er der Habsucht. Sein Verrat wiegt deshalb noch schwerer als der des elenden Philipp.«
    »Er ließ eure Brüder ermorden und schwang den Weihrauchkessel dazu.«
    »So ist es. Deshalb muss auch er sterben. Ich sage es mir jeden Tag.«
    »Euer Gott stehe dir bei, mein Freund! Du wirst nach dem Jüngsten Gericht im Fegefeuer enden!«
    »Die Welt ist nun einmal so, Uthman. Wir haben keine andere Wahl. Das ist der Fluch, der auf uns lastet – der Fluch unserer Zeit.«
    »Deshalb lasse uns Gott danken – und es gibt nur einen, wie wir beide wissen –, dass wir heute leben!«
    »Danken wir Gott, er ist allmächtig…«
    »… Johannes der Täufer und Muhammad sind seine Propheten…«
    »Und Jesus sein eingeborener Sohn!«
    »Gut. Wenn Ihr das für Euer Seelenheil benötigt, von mir aus auch das…«
    »Wenn wir so weit Einigkeit erzielen, was in dieser Zeit gewiss nicht einfach ist, dann lass uns über die andere Sache sprechen, die mit gemeinsamem Handeln zum Erfolg führen kann!«
    »Du meinst…?«
    »Ja!«
     
     
    Am nächsten Tag fand in der Stadt ein Umzug statt. Offenbar hatte er etwas mit heidnischen Fruchtbarkeitsriten zu tun, denn halb nackte Männer vollführten große Sprünge. Vor ihnen lief ein Narr her, der sie ankündigte.
    Henri de Roslin kam nicht über die Straße, um in den Dominikanerpalast zu gehen, zwei Soldatenketten schützten den Umzug. Er wollte Gottfried treffen, der endlich angekommen war. Henri und Uthman hatten ihn ungeduldig erwartet, denn sie wollten ihren geheimen Plan endlich umsetzen.
    Henri trat von einem Bein auf das andere. Er wunderte sich nicht mehr über das ständige Feiern in Avignon. Über dieser Stadt lag eine große, unheimliche Spannung. Sie hatte vielfältige Gründe und musste sich entladen. Solche Umzüge verhinderten wahrscheinlich Schlimmeres.
    Jetzt erblickte er auch eine Gruppe von halbwüchsigen Jungen, die sich gegenseitig schlugen. Nach einigen Tänzern kamen berittene Herolde, sie warfen mit Nüssen nach den Kindern und entleerten mit Rosenwasser gefüllte Eierschalen über die zuschauenden Frauen. Es entstand ein großes Geschrei, und ein junges Weib entblößte direkt neben Henri ihren nackten Busen, der feucht glänzte und herrlich nach frisch geschnittenen Rosen duftete.
    Den Herolden folgten als Dämonen verkleidete Männer in zottiger Kleidung mit Tiermasken, sie warfen mit Asche und Feuer um sich und erschreckten so die Zuschauer. Als Letzte gingen in farbenprächtige Kostüme gekleidete Läufer, die sich rhythmisch zum Klang von Trommeln und Pfeifen bewegten. Den Höhepunkt des Umzuges bildete nach einer Weile die Erstürmung eines handgezogenen Wagens. Er hatte die Form eines Fabeltieres und stellte die

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