Der König Von Korsika
hinaus fehlte, war Unterstützung von Spezialisten, denn in die Fähigkeiten seiner korsischen Räte setzte er kein übermäßiges Vertrauen, was er den empfindlichen Männern allerdings keineswegs zeigen durfte, die auf Nebenkriegsschauplätzen beschäftigt werden mußten, um ihnen das Gefühl zu vermitteln, der König zähle auf sie.
Er verfaßte ratsuchende Briefe an den Baron de Secondat in Bordeaux, der sich bereits für Costas Verfassungsentwurf interessiert hatte, um zu erfahren, wie Gewaltenteilung und Rechtssicherheit ins Werk gesetzt werden könnten. Vor allem entwarf er den kühnen Plan, für die Finanzverwaltung des Königreichs das einstige Genie der Rue Quincampoix, den schottischen Herrn Law persönlich, als Minister zu gewinnen. Alle seine Schreiben aber kehrten mit dem Vermerk, der Adressat sei unbekannt oder lebe nicht mehr am angegebenen Ort, nach Korsika zurück, und nach einer mehrmonatigen postalischen Odyssee erfuhr Theodor aus Venedig von seinem alten Freund Respighi, der langvergessene Finanzjongleur sei bereits vor sieben Jahren elendiglich und mittellos in der Lagunenstadt gestorben.
Als er diese Nachricht erhielt, Anfang September in Sartè, wäre wieder ein Moment dagewesen, wie Theodor sie liebte. Ein Brief war es hier, es hätte auch der Duft einer Blume, der Glockenklang einer Kirche oder eine Melodie sein können, die ein Seil über den Abgrund der Zeit spannten: Law gestorben in Venedig, das reichte von den Pariser Erinnerungen seiner Jugend bis hin zu seinen eigenen, traumartigen venezianischen Tagen, aus deren Hintergrund sich in besonderer Beleuchtung jenes Gemälde schälte, das seine Sehnsucht vor so große Rätsel gestellt hatte. Theodor sah es genau vor sich, das sein Kind säugende Mädchen, der innehaltende Hirte oder Wandersmann, das dräuende Gewitter... – ja, es hätte ein Moment sein können, zu sinnen über die Zeit und die merkwürdigen Wege des Lebens, aber
es war keine Zeit dafür, denn mitten aus dem traumatischen Feldzug auf Bastia hatte Theodor die Diät nach Sartè berufen, um den Erlösungsorden zu stiften, und er hatte ebensowenig Muße für Erinnerungen und Träume wie jetzt in den letzten Apriltagen in Cervioni.
Seine paradoxe Erfahrung war, daß aus der Überfülle der Tage kein Leben erwuchs, sondern Leere. In Berthelsdorf zum Beispiel hatte er gelebt, es bereitete ihm nicht die geringste Mühe, lange in der Kontemplation der Gestirne verbrachte Abende, Gespräche, Mußestunden, die seltenen Reisen in lebendigsten Farben, Tönen, Gerüchen heraufzubeschwören. Dagegen konnte er sich an keinen einzigen Tag erinnern, seit er auf Korsika war, und hätte nicht zu sagen gewußt, was mit den gestohlenen Stunden eigentlich entwendet worden war. Auch wenn er später an diese Monate zurückdachte, blieben viele weiße Flecke, er wußte nur gerade zu sagen, er sei König gewesen, und mußte fast jede zusätzliche Einzelheit erfinden.
Im Feldlager bei Isula Rossa im Juni erwachte Theodor eines Morgens vor Tagesanbruch verkühlt und mit schmerzenden Knochen und rief aus: Welche Anstrengungen!
Bevor er noch an den bevorstehenden Tag denken konnte, blieb er an seinen eigenen Worten hängen: Tatsächlich, er strengte sich an, seit er König war, er mußte sich jeden Tag anstrengen.
Banal, wie sie sich anzuhören schien, war diese Feststellung doch eine wahre Offenbarung. Wann hatte er sich je im Leben angestrengt? Ich bin fähig dazu! sagte er verblüfft und blickte sich um, ob nicht jemand im Zelt sei, dem er seine Entdeckung mitteilen und der ihn dafür beglückwünschen und bewundern würde.
Wie ein Wolkenschatten glitt der Verdacht über seine Gedanken, dieser Zustand sei seinem Wesen vielleicht nicht gemäß. Denn was war Anstrengung anderes als die mutwillige und ungeduldige Überschreitung einer Grenzlinie zwischen
dem eigenen Bereich und dem der Götter? Man schritt voran, aber nicht zu weit, und baute darauf, daß sie einem in gleichem Maße entgegenkamen. Den ganzen Weg mit offenen Augen allein zurücklegen und gar nichts mehr dem Zufall überlassen zu wollen, war womöglich für einen Menschen wie ihn strafwürdige Hybris.
Theodor trat aus seinem Zelt, vor dem zwei Soldaten hockten und Wache hielten. Der böige Wind blies ihm scharf ins Gesicht, die Höhenlinie der Hügelkette im Osten sah gegen das rosige Morgenlicht aus wie mit schwarzer Spitze geklöppelt. Es würde lange dauern, bis die Sonne über die Berge käme, in deren Schatten die kargen
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