Der König von Luxor
mit der der junge Carter über sein Schicksal redete. Selbstmitleid und hilflose Wut, die einem Jungen seines Alters und in seiner Situation durchaus angemessen gewesen wären, schienen ihm fremd. Ja, es schien, als habe er gerade durch sein schweres Los jene Stärke erlangt. Howard war fünfzehn und eigentlich noch ein Kind, doch in seinem Wesen hatte Sarah eine gewisse natürliche Autorität entdeckt, die sie sich selbst manchmal gewünscht hätte.
K APITEL 2
Für Sarah Jones bedeutete der Verlust ihrer Ersparnisse eine Katastrophe, denn nun war sie den Launen der Baronin von Schell ausgeliefert. Der Unterricht in der Dame-School fiel ihr nicht leicht. Obwohl sie von Ipswich einiges gewöhnt war, benahmen sich die Mädchen widerborstig und zickig und zeigten wenig Interesse am Unterricht.
Sie hatte die ersten vier Wochen gerade hinter sich gebracht, da ließ die Baronin Sarah Jones auf ihr Zimmer kommen, das im Obergeschoß am Ende eines langen Korridors lag. »Direktion« stand auf einem weißen Emailschild über der zweiflügeligen, schwarzgestrichenen Türe.
Seit ihrer Ankunft hatte Sarah dieses Zimmer nur einmal betreten, und wie beim ersten Mal schauderte sie beim Anblick des dunklen Mobiliars und der schweren, verstaubten Vorhänge, die den Eindruck vermittelten, als sei der Raum seit Jahrzehnten nicht mehr bewohnt worden.
Wie eine Figur aus dem Wachsfigurenkabinett Madame Tussauds saß Gertrude von Schell unbeweglich hinter ihrem Schreibtisch, einem heruntergekommenen Ungetüm mit schwarzen Löwenpranken, das gewiß schon unter King George seinen Dienst verrichtet hatte – dem Dritten wohlgemerkt! Über ihrem Kopf hing ein angegrautes Bild Queen Victorias in einem balkendicken schwarzen Rahmen.
Im Näherkommen bemerkte Sarah, daß die Baronin äußerst erregt war. Ihr Kopf glühte purpurrot, und ihre von feinen Aderchen durchzogenen Wangen hatten eine bläuliche Färbung angenommen.
»Setzen Sie sich, Miss Jones!« sagte sie im Kommandoton, wobei sie ihre Aufregung mühsam unterdrückte.
Sarah ließ sich auf dem einzigen Stuhl nieder, der vor dem Schreibtisch stand, und wartete wie eine Delinquentin auf ihr Urteil.
Gertrude von Schell wühlte in irgendwelchen Papieren. Schließlich breitete sie eines auf dem Schreibtisch aus. »Wissen Sie, was das ist? – Das ist der Brief eines Vaters, der Beschwerde führt über die mangelnde Erziehung seiner Töchter. Könnte es sein, daß Sie Ihre Aufgabe überfordert, Miss Jones?«
Überfordert, von wegen!, wollte Sarah antworten. Werfen Sie doch einen Blick auf meine Zeugnisse. Die sind hervorragend. Was ist schon Ihre lächerliche Dame-School im Vergleich zu jener in Ipswich!, wollte sie sagen. Aber sie schwieg betreten.
Die Baronin ballte die dürre rechte Faust und schlug mit den Knöcheln auf die schwere Eichenplatte. »Mister McAllen beklagt die mangelnde Autorität der neuen Lehrkraft. Seine beiden Töchter, schreibt er, benötigten eine starke Hand, kein Händchen. Mister McAllen ist einer der wichtigsten Geldgeber unserer Schule, Miss Jones. Wissen Sie, was das bedeutet, wenn er seine Töchter von unserer Schule nimmt und seine Zahlungen einstellt? Dann sind Sie und ich ohne Arbeit. Haben Sie mich verstanden?«
Sarah nickte einsichtig, obwohl sie sich nichts vorzuwerfen hatte, was ihre Arbeit betraf. In Ipswich hatte sie nur Lob geerntet wegen ihrer offenen, freundlichen Art den Mädchen gegenüber. Es lag ihr fern, mit dem Rohrstock Bildung zu vermitteln.
Wie nicht anders zu erwarten, wertete die Baronin Sarahs Schweigen als Schuldeingeständnis, ja sie drohte, sie auf die Straße zu setzen. Dann könne sie sehen, wo sie bleibe.
»Und jetzt gehen Sie!« beendete sie abrupt das Gespräch. Dabei machte sie eine flatternde Handbewegung.
Mit Tränen in den Augen stieg Sarah Jones die steile Treppe zu ihrer Kammer hinauf. Schluchzend warf sie sich auf ihr Bett. Ihre Hände zitterten vor Wut, ihre Augen starrten ins Leere.
Als sie wieder denken konnte, faßte Sarah Jones den Entschluß: Sie wollte weg aus Swaffham, egal wohin. An einen Ort, wo es noch Luft zum Atmen gab, wo die Atmosphäre nicht von Mißtrauen, Bosheit und Gehässigkeit verpestet war.
Aber wie sollte sie das in ihrer Lage bewerkstelligen?
Was Howard Carter betraf, so hatte die Begegnung mit Miss Jones bei ihm weniger Eindruck hinterlassen als umgekehrt. Er hatte vor ihr schon zwei andere Lehrerinnen erlebt, und keine hatte auch nur im entfernten Eindruck auf ihn
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