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Der König von Luxor

Der König von Luxor

Titel: Der König von Luxor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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war. Sarah sagte, eingedenk ihrer eigenen Vergangenheit: »Es ist nicht leicht, ohne Vater und Mutter aufzuwachsen…« Der Junge sah sie lange prüfend an, als wollte er ergründen, ob ihre Bemerkung nur so dahin gesagt oder ernstgemeint war; dann brach es aus ihm heraus: »Ich könnte nicht behaupten, daß sich mein Vater oder meine Mutter je ernsthaft um mich gekümmert hätten. Lange habe ich nach dem Grund dafür gesucht. Als ich zwölf war, las ich heimlich im ›Peddler’s Magazine‹ eine Geschichte, in der ich mich irgendwie wiedererkannte.«
    »Dieses Schundmagazin ist bei Gott kein Lesestoff für einen Zwölfjährigen!« meinte Sarah Jones und tat entrüsteter, als sie war. »Was meinst du damit, du habest dich wiedererkannt?«
    Über Howards Gesicht huschte ein verschämtes Lächeln. »Die Geschichte hieß ›Der Zaunkönig‹ und handelte von einem kleinen Jungen aus Middlesex, der sich ungeliebt und unverstanden fühlte. Seine Eltern kümmerten sich kaum um ihn, und er lebte am liebsten auf der Straße. John, so hieß der Junge, litt wie ein Hund, und er fragte sich, warum seine Eltern ihn von einer Kinderfrau zur anderen, von einem Heim ins andere schoben. Er empfand sich als klein, wie ein Zaunkönig, obendrein dumm und häßlich. Von der Frau des Krämers erfuhr er eines Tages, daß seine Mutter überhaupt kein Kind mehr gewollt und alles versucht hatte, es vor der Geburt loszuwerden. Dabei sei sie sogar von einem fahrenden Wagen gesprungen…«
    »Du solltest nicht solchen Schund lesen, Howard!« fiel Miss Jones ihm ins Wort. »Schon gar nicht in so jungen Jahren.«
    Aber Carter ließ sich in seinem Redefluß nicht bremsen. »Warten Sie«, ereiferte er sich, »warten Sie, wie die Geschichte ausgeht.«
    Also hörte sie weiter zu.
    »John war nicht sehr gescheit, aber er hatte eine Fähigkeit, die bei den anderen Straßenjungen Bewunderung hervorrief. Er benutzte die Eisenrohre einer Wasserleitung, die damals in Middlesex gebaut wurde, zum Balancieren und errang dabei solche Kunstfertigkeit, daß er von allen bewundert wurde. Als eine Seiltänzertruppe in seiner Stadt gastierte, fragte er, ob er seine Kunstfertigkeit vorführen dürfe. Ohne Hemmungen erklomm er das Seil und ging mit Hilfe einer Stange unbeirrt auf den Kirchturm. Von diesem Tag an war John Seiltänzer und reiste mit der Truppe durch ganz England, ja sogar nach Amerika…«
    »Und du fühlst dich auch als so ein Zaunkönig?«
    Howard bemerkte wohl, wie Miss Jones ihn von Kopf bis Fuß musterte. »Ich war klein und schwächlich, müssen Sie wissen. Alle öffentlichen Schulen verweigerten meine Aufnahme. Das war auch der Grund, warum ich letztlich in einer Dame-School landetemitten unter ziemlich albernen Mädchen, die dort gerade mal das große Einmaleins lernen und wie man Kleider aus Papier schneidert. Ich bin erst in den letzten Jahren gewachsen.«
    »Du leidest unter dieser Schule?«
    Carter blickte verlegen zur Seite. »Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, ich gehe gerne dorthin. Was bleibt mir übrig.«
    »Hast du denn deinen Traum aufgegeben, ein berühmter Seiltänzer zu werden? Ich meine, du hast doch ebenfalls ein großes Talent!«
    »Sie meinen das hier?« Er ließ die Blätter seines Zeichenblocks zwischen Daumen und Zeigefinger durchlaufen. »Ob das reicht, um berühmt zu werden?«
    »Du mußt daran glauben!« betonte Sarah.
    Da sah er sie lange an, und Sarah vermochte seinen nachdenklichen Blick nicht zu deuten.
    Wind kam auf, und Sarah sagte, sie wolle sich auf den Heimweg machen, bevor es kühl werde, ob er sie begleiten wolle.
    Howard schüttelte den Kopf und murmelte nur, er würde doch lieber noch eine Eidechse fangen. Dazu müsse er allein sein. Und schon im nächsten Augenblick verschwand er grußlos in die entgegengesetzte Richtung.
    Auf dem Rückweg gingen Sarah Jones seltsame Gedanken durch den Kopf. Irgendwie fühlte sie sich dem Jungen und seinem Schicksal verbunden. Zwar war sie ein Einzelkind; doch diese Tatsache allein schien keineswegs dazu angetan, ihr ein besseres Leben zu bescheren als dem Elften in einer vielköpfigen Kinderschar. Seit sie denken konnte, empfand sie ihre Existenz immer als Störung anderer Menschen, als Störung des Witwerdaseins ihres Vaters, als Störung der Nachbarin, die sich ihrer annahm und der sie für jeden Handgriff danken mußte, als Störung in der Dame-School inIpswich, wo sie sich eine feste Anstellung erbetteln mußte.
    Was Sarah Jones wunderte, war die Abgeklärtheit,

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