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Der König von Luxor

Der König von Luxor

Titel: Der König von Luxor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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nach. Ohne zu zögern, nahm Petrie den Eimer und schüttete den Inhalt über Hildas Gesicht. Die Roßkur zeigte Wirkung. Mrs. Petrie schüttelte sich und öffnete die Augen.
    »Hilda!« rief Petrie aufgeregt und hüpfte um seine auf dem Boden liegende Frau herum. »Hilda! Wir haben alles überstanden.«
    Zögernd kamen auch Newberry und Selima aus dem Haus. Erst jetzt hatte Carter Gelegenheit, die Umgebung zu betrachten. »O mein Gott!« stammelte er. »O mein Gott.«
    Die Sonne, die sich seit Tagen hinter Staubwolken in stickig heißer Luft verborgen hatte, stand sichtbar über den Bergen im Osten und warf grelle Schatten in die Ebene von Tell el-Amarna. Das ließ den Anblick noch unwirklicher erscheinen, absurd und phantastisch wie eine Theaterdekoration: Millionen von Heuschrecken hatten das Land kahlgefressen. Palmen, Bäume und Büsche waren kaum zu erkennen, weil nur Stämme und dickere Äste übriggeblieben waren. Selbst an dem Schilfrohr auf dem Dach des Grabungshauses hatten sich die gefräßigen Insekten gütlich getan und nur ein poröses Gitterwerk zurückgelassen.
    Tausende toter Insekten lagen im Sand, tot, starr oder zappelnd. Und über allem schwebte der penetrante Geruch, der sie seit eineinhalb Tagen verfolgte.
    Carter hielt die flache Hand über die Augen und suchte die Ebene ab. Nichts regte sich. Es war still. Nicht einmal die großen schwarzen Vögel, die für gewöhnlich um diese Zeit über Amarna kreisten, ließen sich blicken.
    Flinders Petrie half seiner Frau auf die Beine. Hilda blickte in die Ferne, wo vorgestern noch ein grüner Landstreifen das Nilufer eingerahmt hatte. Jetzt war auch hier kahle Wüste. Ungläubig schüttelte Hilda immer wieder den Kopf. Dann sagte sie leise: »So habe ich mir als Kind den Jüngsten Tag vorgestellt.«

K APITEL 14
     
     
     
    Es dauerte Wochen, bis alle Spuren der Heuschreckenplage beseitigt waren, und noch länger gerieten die Menschen in Panik, sobald zwei oder drei der fliegenden Insekten auftauchten. Überall in der Ebene lagen tote Tiere herum, Hunde, Katzen, sogar Esel und Kühe. Besonders nachts, wenn ein warmer Wind über den Talkessel strich, verbreitete sich ein unerträglicher Gestank. Doch das wahre Grauen wurde jeden Morgen sichtbar, wenn die Sonne aufging und die kahlgefressenen Bäume und die Palmenstümpfe bizarre Schatten warfen, als wären es die abgenagten Skelette von Walfischen.
    Mais-, Zuckerrohr- und Baumwollernte waren vernichtet. Die Plantagenbesitzer entließen ihre Arbeiter, denn es gab nichts zu tun. In Mittelägypten ging die Angst um, die Angst vor einer Hungersnot.
    Eines Morgens erwachte Carter von dumpfem Gebrummel. Sein erster Gedanke war: Heuschrecken! Aber als er näher hinhörte, vernahm er ein hundertfaches Stimmengewirr.
    Howard blinzelte aus dem Fenster. Vor dem Grabungshaus hatten sich etwa dreihundert Männer versammelt. Sie trugen Schaufeln, Hacken und Keulen und schienen äußerst aufgebracht. Carter weckte Newberry. Der verständigte Petrie.
    Zu dritt spähten die Männer nach draußen.
    »Was hat das zu bedeuten?« fragte Flinders Petrie.
    »Keine Ahnung«, erwiderte Newberry, »freundlich sehen die Kerle jedenfalls nicht aus.«
    Mrs. Petrie, die sich inzwischen angezogen und die Menschenansammlung beobachtet hatte, holte die Flinte aus Petries Arbeitszimmer, steckte eine Patrone in die Waffe und lud durch. Eine Handvoll weiterer Patronen steckte sie in die Tasche ihrer Reithose. Mrs. Petrie, Tochter eines britischen Colonel, hatte ihre Treffsicherheit schon oft unter Beweis gestellt.
    »Flinders!« kommandierte sie in der ihr eigenen Art, »du gehst jetzt raus und fragst, was die Leute wollen. Und sollte dir nur einer ein Haar krümmen, dann knalle ich ihn ab wie ein Kaninchen.« Hilda nahm ihr Gewehr in Anschlag.
    Der Lärm vor dem Haus wurde lauter. Mißtrauisch blickend, wagte sich Petrie ins Freie, Mrs. Petrie dicht hinter ihm.
    Beim Erscheinen des Ausgräbers verstummten die Männer.
    »Was wollt ihr zu so früher Stunde?« rief Petrie mit lauter Stimme.
    Ein fremder Mann mit schwarzem Haar und grauem Kinnbart trat vor. Er war etwa fünfzig Jahre alt und trug eine Keule in der Hand. Hilda riß das Gewehr hoch.
    »Um Himmels willen«, meinte Carter im Hintergrund an Newberry gewandt, »wenn Mrs. Petrie jetzt abdrückt, ist unser Leben keinen Pfifferling mehr wert.«
    Für einen Augenblick standen sich Petrie und der Unbekannte Auge in Auge gegenüber, dann sagte dieser in gut verständlichem Englisch:

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