Der König von Luxor
Tempel des Aton. Seine Tore werden um diese Zeit geschlossen. Die kahlköpfigen Priester eilen in ihre nahen Wohnungen. Sehen Sie das, Mr. Carter, sehen Sie das?«
»Ja, ich sehe es«, antwortete Howard Carter andächtig.
»Dann ist es gut«, meinte Petrie voller Stolz. »Ich habe nämlich eine Aufgabe für Sie, ich möchte, daß Sie einen Stadtplan von Achetaton zeichnen, mit allen Straßen, Plätzen und Gebäuden. Das ist gewiß keine einfache Angelegenheit, aber Sie wären der erste, dem es gelingt, einen Plan einer über dreitausend Jahre alten Stadt zu erstellen. Trauen Sie sich das zu, Mr. Carter?«
Howard zögerte angesichts der zahllosen Mauerreste, die zum Teil so unscheinbar und unregelmäßig aus dem Sand ragten, daß es großer Phantasie bedurfte, um darin die Umrisse eines Gebäudes zu erkennen. Aber dann erwiderte er kurz: »Ich versuche es, Sir.«
Und Petrie bekräftigte: »Nichts anderes habe ich von Ihnen erwartet, Mr. Carter.«
Mit Maßband und Zeichenbrett ausgestattet, machte sich Carter am folgenden Tag an die Arbeit. Zunächst skizzierte er mit freier Hand eine Übersicht der Stadt, bevor er daran ging, die einzelnen Straßen und Gebäude zu vermessen. Howard begann im Zentrum, wo die größten Mauerreste erhalten waren. Das erleichterte die Arbeit.
Gegen Mittag, die Arbeiter hatten ihre Tätigkeit gerade eingestellt, näherte sich der Rais Mehmed Zaki und rief schon von weitem: »Ein Telegramm, Carter-Effendi!«
Carter riß den braunen Umschlag auf, faltete das derbe Papier auseinander und las: »Vater Samuel Carter gestern gestorben + stop + Beerdigung Putney Freitag + stop + Fanny und Kate + stop +.«
»Etwas Unangenehmes?« erkundigte sich Mehmed Zaki.
»Nein, nein«, erwiderte Howard, »welchen Tag haben wir heute?«
»Heute Donnerstag, Carter-Effendi.«
»Ist gut.«
Der Rais entfernte sich.
Samuel Carters Tod – er wurde nur siebenundfünfzig Jahre alt – traf Howard unvorbereitet; aber er bereitete ihm keinen Schmerz. Er hatte seinen Vater zeitlebens verehrt, geliebt hatte er ihn nicht. Für ihn war der Vater als Maler ein Vorbild gewesen. Als Maler hatte er ihn bewundert, als Vater eher verachtet. Nein, er empfand keine Trauer. Was ihn in diesem Augenblick bewegte, war eher die Zukunft seiner Mutter. Sie war Samuel Carters starken Arm gewöhnt, und Howard machte sich Gedanken, wie sie ohne diesen starken Arm leben würde.
Auf dem Heimweg bemerkte Carter, daß er weinte. Hatte er seinen Vater doch mehr geliebt, als er sich eingestand? Oder war es nur die Erkenntnis der Unabänderlichkeit des Schicksals? Howard wischte sich mit der Hand die Tränen aus den Augen. Irritiert schüttelte er den Kopf und setzte seinen Weg fort.
Das karge Mittagessen, das aus gurkenartigen panierten Gemüsescheiben bestand und dank Selimas Kochkünsten durchaus schmackhaft war, verlief schweigsam. Angesichts der Mittagshitze war das nicht ungewöhnlich. Unterhaltung wurde von den Ausgräbern erst nach dem Abendessen gepflegt. Nicht selten dauerte sie die halbe Nacht. Aber an diesem Tag lag eine seltsame Spannung in der Luft. Das spürte Howard sofort. Zunächst glaubte er, das Schweigen habe mit dem Tod seines Vaters zu tun; doch woher sollten Petrie und Newberry den Inhalt des Telegramms kennen?
Wortlos zog Carter das Papier aus der Tasche und reichte es Petrie über den Tisch.
Der las, und bevor er das Telegramm an seine Frau Hilda weitergab, sagte Petrie: »Es tut mir aufrichtig leid, Mr. Carter. Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist.«
»Schon gut«, meinte Howard, nachdem auch Hilda Petrie und Newberry ihm ihr Mitgefühl ausgesprochen hatten, »aber erwarten Sie von mir keine allzutiefe Trauer. Sie wissen ja, daß ich zwar Eltern hatte, aber weder einen Vater noch eine Mutter.«
Wieder entstand ein lang anhaltendes Schweigen. Endlich begann Percy Newberry zu reden. »Nein, heute ist wahrlich kein Glückstag für uns alle.«
Jetzt sah Carter den Briefumschlag, der neben der Pfanne auf dem Tisch lag. Absender: The Egypt Exploration Fund, Oxford House, London.
»Laß mich raten, was in dem Brief steht!« sagte Howard an Newberry gewandt. »Lord Amherst will, daß wir die Schatzsuche aufgeben.«
»Gut geraten«, erwiderte Newberry bitter. »Amherst bezahlt uns noch vier Wochen bis zum Ende der Saison. Außerdem kommt er für die Schiffspassage nach England auf.«
»Wie großzügig«, rutschte es Howard Carter heraus, »aber man kann es Lord Amherst nicht verdenken. Was haben
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