Der König von Luxor
»Wenn man dich braucht, bist du nie da! Ich könnte tot sein, und du würdest es erst aus der Zeitung erfahren.«
Sayyed sah den Effendi prüfend an, ob er sich nicht über ihn lustig machte; aber dann erkannte er die Ernsthaftigkeit in seinem Gesicht und fragte: »Was ist geschehen, Carter-Effendi? Sayyed hatte keinen Grund, Sie mit Belanglosigkeiten zu belästigen.«
»Belanglosigkeiten nennst du das?« rief Howard entrüstet, und sein Kopf lief rot an. »Ich wurde in meinem Haus von vier Männern überfallen und ausgeraubt, und Mrs. Spink, die bei mir war, wurde entführt.«
»Entführt, sagen Sie, Carter-Effendi? Das kann nicht sein. Allah ist mein Zeuge, daß ich Mrs. Spink heute beim Morgenspaziergang gesehen habe. Die schöne Lady promenierte vor dem Hotel ›Winter Palace‹, verschwand für einen Augenblick im Büro von Thomas Cook und setzte ihren Weg auf der Nilpromenade fort.«
»Bist du sicher, daß es Mrs. Spink war?« Howards Stimme klang aufgeregt.
Sayyed hob das Kinn und verschränkte die Arme: »Carter-Effendi, wollen Sie mich beleidigen? Sayyed hat ein Auge für schöne Ladys, und Mrs. Spink ist eine sehr schöne Lady. Aber das brauche ich Ihnen nicht zu sagen.«
Howard nahm Sayyed, der ihn an Größe inzwischen beinahe überragte, beiseite. Was er ihm zu sagen hatte, war nichts für fremde Ohren: »Mrs. Spink wird von Mr. Spink schlecht behandelt. Sie will sich von ihrem Mann trennen und nach England fliehen. Ich muß unbedingt wissen, was sie vorhat. Hörst du?«
»Kein Problem, Carter-Effendi!« erwiderte Sayyed, und ohne weitere Instruktionen abzuwarten, rannte er talwärts, eine Staubwolke hinter sich herziehend wie ein Wüstenfuchs auf der Flucht vor den Jägern.
Es dämmerte schon, und Howard war mit der Instandsetzung seines Hauses beschäftigt, da näherte sich Sayyed mit derselben Geschwindigkeit, wie er ihn verlassen hatte. »Carter-Effendi!« rief er schon von weiten und schwenkte ein gefaltetes Papier in der Luft. »Eine Nachricht von Mrs. Spink.«
Carter nahm den Zettel entgegen und las: »Howard, ich hoffe, Sie sind wohlauf. Habe ein Billett für den Nachtzug nach Kairo gebucht und eine Passage mit dem Dampfer ›Sudan‹ von Alexandria nach Neapel. Ich bete, daß alles gutgeht. Werden Sie heute zum Abschied am Bahnhof sein? – In Liebe. Elizabeth.«
Nachdenklich strich sich Howard mit der Hand über das Kinn, dann fragte er: »Sayyed, wann geht der Nachtzug nach Kairo?«
Sayyed hob die Augenbrauen, als wollte er eine wichtige Mitteilung machen. »Kommt darauf an!« antwortete er verschmitzt. »Nach dem Wunsch der Eisenbahngesellschaft sollte der Nachtzug um zehn nach zehn abfahren. Aber das ist nur ein Wunsch – wie man sich einen guten Tag wünscht, ohne groß darüber nachzudenken. In Wahrheit verläßt der Nachtzug selten vor elf Uhr den Bahnhof von Luxor. Mr. Zaki Raids, der Eisenbahnvorsteher, sagt, alle Eile ist vom Teufel.«
Mit einem Gefühl von Traurigkeit machte sich Howard Carter am Abend auf den Weg hinüber nach Luxor, und nicht einmal der Fährmann, den er seit vielen Jahren kannte und dem stets ein lustiges Liedchen über die Lippen ging, vermochte ihn aufzuheitern. Im Blumenladen vor dem »Winter Palace« kaufte er ein Jasminsträußchen. Verschämt ließ er es unter seiner Jacke verschwinden.
Howard zog es vor, den Seiteneingang des Bahnhofs zu benutzen, wo das Gepäck der Fahrgäste angeliefert wurde. Hier konnte er sicher sein, daß seine Ankunft nicht bemerkt wurde. Im Inneren bezog er unter einem eisernen Vordach Posten. Dort hatte er den besten Überblick. Entgegen der Ankündigung Sayyeds lief die Eisenbahn, versehen mit einem Speisewagen und zwei Schlafwagen, pünktlich ein; doch dann schien es niemand eilig zu haben. Zugführer, Stewards, Kofferträger und Kondukteure waren in erster Linie damit beschäftigt, Neuigkeiten auszutauschen. Längst hatten die Zeiger der großen Bahnhofsuhr die Abfahrtszeit überschritten, als die ersten Fahrgäste ihre Abteile aufsuchten.
Aufgeregt hielt Carter nach Elizabeth Ausschau. Natürlich hatte er sich Gedanken gemacht, wie sie es wohl anstellen würde, sich unbemerkt davonzumachen. Und weil er die näheren Umstände nicht kannte, blieb ihm nichts anderes übrig, als alle Reisenden, die sich auf dem Bahnsteig aufhielten, eingehend zu mustern. Er mußte damit rechnen, daß Elizabeth sich verkleidet hatte. Vergeblich.
Schließlich faßte er den Entschluß, für jedermann sichtbar auf dem Bahnsteig auf und
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