Der König von Luxor
Stundenplan.
»Wer nennt mir die Herrscher des Hauses Tudor?« Die Stimme der Baronin klang drohend. Keines der Mädchen wagte aufzublicken.
»Ireen?«
Das Mädchen zuckte zusammen.
»Wer ist der erste König der Tudors?« wiederholte Mrs. von Schell ihre Frage.
»Eduard IV.?« antwortete »Blümchen« fragend.
»Falsch. Es war Heinrich VII. Und wer folgte auf Heinrich VII.?«
Ireen hielt den Kopf gesenkt und starrte ängstlich auf ihre Schulbank.
»Du weißt es also nicht. Du weißt nicht einmal, daß auf Heinrich VII. Heinrich VIII. folgte!«
Die anderen Mädchen kicherten. Sie merkten nicht, daß »Blümchen« am ganzen Leib zitterte.
Mit stampfenden Schritten näherte Gertrude von Schell sich dem uralten Bücherschrank an der Rückwand des Klassenzimmers. Alle wußten, was jetzt bevorstand. Auf dem Schrank lag der Schlagstock aus dunklem Edelholz, eine knappe Armspanne lang, aber dünn wie ein Mädchenfinger.
Im nächsten Augenblick würde die Baronin »Blümchen« auffordern, den linken Arm freizumachen, die Hand mit dem Rücken nach unten nach vorne zu strecken, dann würde der Stock mit leisem Pfeifen auf die Hand peitschen, ein-, zwei-, drei-, viermal. Und wenn das Mädchen die Hand zurückzöge und die Baronin ihr Ziel verfehlte, würde sie rufen: Das machst du nicht noch einmal! Und sie würde alle Kraft ihrer siebzig oder noch mehr Jahre einsetzen, um beim nächsten Hieb noch härter zu treffen. Aber dazu kam es nicht.
Denn noch während Gertrude von Schell den gefürchteten Stock vom Sims des Schrankes angelte, sprang Ireen plötzlich auf, raffte ihren langen Rock, machte einen Satz auf die Schulbank und von dort einen Sprung auf das Fensterbrett.
Mit dem Stock in der Rechten stand die Baronin da wie gelähmt. Sie nahm gerade noch wahr, wie das Mädchen kopfüber im Fensterrahmen verschwand. Einen endlos scheinenden Augenblick vernahm man nichts, nur das muntere Gezwitscher der Vögel. Dann ein dumpfer Aufschlag.
Im Schulzimmer begann ein Mädchen leise zu wimmern, ein zweites stieß plötzlich einen gellenden Schrei aus, einige Schülerinnen begannen laut loszuheulen, andere saßen da wie versteinert und starrten die Baronin mit weit aufgerissenen Augen an.
K APITEL 4
»Blümchen« starb am 31. Mai, einem sonnigen Frühlingstag, zwei Tage vor ihrem sechzehnten Geburtstag. Beim Sprung aus dem zweiten Stock der Schule hatte sie sich innere Verletzungen zugezogen.
Als »Blümchens« Mutter vom Tod ihres Kindes erfuhr, brach sie lautlos zusammen, und es dauerte Stunden, bis sie wieder zu sich kam. Der zu Hilfe gerufene Doktor machte eine haarsträubende Entdeckung: »Blümchens« Mutter hatte die Sprache verloren.
Der Tod des Mädchens und die fatalen Folgen verbreiteten sich in Windeseile und schürten den Zorn der Bürger von Swaffham. Während der leblose Körper des Mädchens in einer Seitenkapelle der Kirche aufgebahrt wurde, sammelte sich eine aufgebrachte Menge vor dem Schulhaus.
»Kindermörderin!« riefen die einen.
Andere drohten: »Wir schlagen dich tot. Komm heraus!«
»Deutsches Luder!« war zu vernehmen und: »Du Verbrecherin! Aristokratenschlampe!«
Bis gegen Abend hatten sich annähernd hundert aufgebrachte Menschen vor der Schule eingefunden. Männer waren mit Stangen bewaffnet, einer schwenkte ein Schrotgewehr über dem Kopf, Frauen verfluchten das ehrlose Frauenzimmer.
Geistesgegenwärtig hatte Sarah Jones das schwere Eingangsportal verschlossen, aber es war nicht abzusehen, wie lange es den wütenden Angriffen der Bürger von Swaffham standhalten würde. Sarah hatte gehofft, die Menge würde sich bei Einbruch der Dunkelheit zurückziehen, aber sie sah sich getäuscht. Mit Laternen und Fackeln bewaffnet, drängten immer mehr Menschen vor den Eingang der Schule. Betrunkene Gestalten mischten sich darunter, grölend und fluchend, und Sarah fürchtete, einer von ihnen könnte auf die Idee kommen, das Schulhaus in Brand zu stecken.
Während Sarah Jones die Vorgänge vor der Dame-School durch ein Treppenhausfenster verfolgte, wo sie sicher sein konnte, daß man sie nicht sah, hatte sich die Baronin in ihrem Zimmer eingeschlossen. Obwohl sie an der Situation nicht die geringste Schuld trug, mußte Sarah befürchten, daß sich der Zorn der Menge auch gegen sie richtete. Was sollte sie tun? An Flucht war nicht zu denken. Sogar der Hintereingang wurde belagert.
Sarah erschrak. Sie fühlte, daß jemand hinter ihr stand.
»Miss Jones!« Es war Gertrude von
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