Der König von Luxor
schnippisch.
»Ich kann nicht ungeschehen machen, was passiert ist«, begann die Baronin mit brüchiger Stimme, »obwohl ich alles darum gäbe, es ungeschehen zu machen, glauben Sie mir, Miss Jones. Ich weiß nicht, wie es weitergehen soll. Die Dame-School ist mein Lebenswerk. Ich sehe kommen, wie alles, was ich geschaffen habe, zerfällt – zugegeben, es ist meine Schuld…«
In der Tat, es ist Ihre Schuld, wollte Sarah sagen, aber ihr war nicht nach erneutem Streit zumute. Dann aber, um das Gespräch zu Ende zu bringen, fragte sie: »Baronin, warum erzählen Sie mir das alles. Es geht auf Mitternacht zu, und der Tag hat mehr Kraft gekostet als alle vergangenen Tage zuvor.«
Einen Augenblick verharrten die beiden Frauen in Schweigen. Dann sagte Gertrude von Schell: »Ich sehe nur eine einzige Möglichkeit, meine Schule zu retten, Miss Jones. Sie übernehmen die Leitung der Schule.«
»Ich?« Der Vorschlag der Baronin kam so unerwartet und plötzlich, daß sie unfähig war zu antworten. Vor zwei Tagen noch hatte ihr die Baronin gekündigt und sie verhöhnt, sie sei ihrer Aufgabe als Lehrkraft nicht gewachsen, und nun sollte sie die Leitung der Dame-School übernehmen. »Sie meinen, ich…« Sarah tippte mit dem Zeigefinger auf ihre Brust.
Mrs. von Schell nickte: »Nach dem heutigen Vorfall werden sich die Eltern weigern, ihre Töchter auf diese Schule zu schicken. Und ich kann es ihnen nicht einmal verdenken. Solange dies meine Schule ist, wird an ihr der Makel des heutigen Tages haften. Sie, Miss Jones, sind in Swaffham ein unbeschriebenes Blatt. Ihnen kann niemand einen Vorwurf machen, und Sie können die Stelle ohne Schuldgefühle antreten.«
Sarah traute ihren Ohren nicht, und auch der Anblick der Baronin, die aufgelöst und zusammengesunken vor ihr auf dem Bett saß, ließ sie zweifeln, ob diese Frau dieselbe war, die sie seit ihrer Ankunft in Swaffham kannte: hart, unnachsichtig und eingebildet. Ihrer Rede fehlte auf einmal das Herrisch-Schulmeisterliche, das Pedantisch-Fordernde, ja es hatte sich ins Gegenteil verkehrt, und Sarah war geneigt, Mitleid gegenüber der alten Frau zu empfinden.
»Hören Sie, Sarah«, begann diese aufs neue – sie hatte sie noch nie beim Vornamen genannt –, »ich habe keine Erben, Kinder blieben mir und dem Baron versagt, es ist mein Wunsch, daß Sie mein Erbe annehmen. Es ist gerade so viel, daß Sie von sich nicht mehr behaupten können, arm zu sein. Sagen Sie ja.«
Vom Kirchturm schlug es Mitternacht, und Sarahs Gedanken gerieten in einen wilden Taumel, der ihr jede Antwort unmöglich machte. Sie schüttelte nur ungläubig den Kopf und stellte sich selbst die Frage, ob sie das alles nur träumte, ob sie die Aufregung der letzten Tage nicht überforderte, ob sie sich das alles nicht nur einbildete.
Langsam und kraftlos erhob sich Gertrude von Schell, und im Vorbeigehen legte sie Sarah kurz eine Hand auf die Schulter. Dabei nickte sie mit dem Kopf. »Lassen Sie sich die Sache durch den Kopf gehen. Bis morgen früh haben Sie Zeit, nicht länger. Gute Nacht, Miss Jones.«
In der Türe drehte sie sich noch einmal um. »Ach, geben Sie mir die Pistole zurück.«
Sarah erschrak. Die Waffe steckte noch immer in ihrer Rocktasche. Wortlos hielt sie der Baronin die Pistole hin. »Gute Nacht, Baronin.«
Die Nacht verbrachte Sarah nur im Halbschlaf. Der Tod des Mädchens, das unerwartete Erbe und die damit verbundenen Umstände nahmen ihre Gedanken in Beschlag. Auch wenn »Blümchens« Tod – erst recht die Schuld an ihrem Tod – jeden Menschen zutiefst erschütterte, so erschien ihr die seltsame Wandlung der Baronin fragwürdig, ja unglaubhaft. Was war die Ursache ihrer plötzlichen Zuneigung?
Der Mond tauchte ihre Stube unter dem Dach in fahles graues Licht. Obwohl es still war, hörte sie das Geschrei der aufgebrachten Menge vor dem Schulhaus, die Mörderrufe und das Splittern der Fensterscheiben. Im Fackelschein huschten dunkle Schemen über die Wand, das tote Mädchen in einem weißen Gewand, gefolgt von der Baronin, die ihren dürren Leib in einen schwarzen Schleier hüllte. Sie streckte die knochigen Hände aus, als wollte sie »Blümchen« fangen. In Wahrheit aber wurde sie selbst verfolgt. Männer mit Stangen, Knüppeln und Mistgabeln hetzten sie beinahe zu Tode; aber sie konnten sie nicht ergreifen. Denn sobald sie sie berührten, verschwand Gertrude von Schell wie ein Phantom. Es schien, als löste sie sich in Luft auf. Da fiel ein Schuß, und alle Traumbilder
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