Der König von Luxor
unter die Menge, die zu der kleinen Kapelle drängte, in der das Mädchen aufgebahrt war. Bei den Menschen, die kurz zuvor noch wutentbrannt Rache gefordert hatten, herrschte nun eine stille Andacht. Erst als die Menge das Kirchenportal erreicht hatte, kam es erneut zu Tumulten. Ein jeder wollte der erste sein, der das Wunder mit eigenen Augen erblickte.
Aus dem Innern der Kirche wehte ihr ein kühler Luftzug entgegen, und Sarah Jones spürte den Angstschweiß, der sich auf ihrem Körper verbreitete. Zuvor, beim Anblick der tobenden Meute, hatte sie weniger Furcht verspürt als jetzt, da sie dem vermeintlich toten Mädchen begegnen sollte.
Es war unmöglich, zu der Seitenkapelle, wo Blümchen aufgebahrt lag, vorzudringen. Die Ungewißheit über das Schicksal des Mädchens, hinter der sich jedoch weniger Anteilnahme als pure Sensationsgier verbarg, ließ zornige Rufe laut werden.
»Nun sagt schon, ob sie lebt!« – »Ich will sie sehen!«
Schließlich mischten sich unwillige Stimmen darunter: »Alles Schwindel!« – »Blümchen ist tot!« – »Fauler Zauber!«
Aber noch bevor die Stimmung umschlagen konnte, erklomm der Vikar eine Kirchenbank und richtete das Wort an die neugierigen Gaffer.
»Meine Brüder und Schwestern!« begann er pathetisch, und mit beschwichtigenden Handbewegungen versuchte er seine Zuhörer zu beruhigen. »Meine Brüder und Schwestern. Wir sind heute Zeugen eines Wunders geworden. Widrige Umstände hatten unsere Schwester Ireen, unser ›Blümchen‹, mitten aus ihrem jungen Leben gerissen…«
»Ist sie tot, ja oder nein?« schallte es aus der letzten Reihe neben dem Eingang. »Ja oder nein?« wiederholten andere Neugierige.
Der Vikar streckte die Arme aus und schüttelte unwillig den Kopf. »Der Tod hat sie mitten aus ihrem jungen Leben gerissen«, wiederholte der Geistliche, »und niemand, der dieses arme Geschöpf gesehen hat, zweifelte daran. Aber dann, sechs Stunden nach ihrer Aufbahrung hier in dieser Kapelle, öffnete Ireen die Augen, und sie begann ihre Lippen zu bewegen. Ich und ein Dutzend anderer haben es mit eigenen Augen gesehen. Dabei formte sie deutlich vernehmbar die seltsamen Worte: Heinrich VII. Heinrich VIII. – Heinrich VII. – Heinrich VIII. Dann schloß sie für immer die Augen. Ireen ist tot. Der Doktor hat soeben mit einem Stich in die Ferse zweifelsfrei ihren Tod bestätigt.«
Enttäuschung machte sich breit unter den Zuhörern. Sie hatten gehofft, Zeugen eines Wunders zu werden. Nun war das Wunder an ihnen vorübergegangen, ja die meisten fühlten sich in ihrer Ansicht bestätigt: Es gab überhaupt keine Wunder. Und in Swaffham schon gar nicht.
Verwirrt und enttäuscht kehrte Sarah Jones zurück. Das Schulhaus war verwaist. Nur ein paar Knüppel und abgebrannte Fackeln erinnerten an den Aufruhr. Sarah schloß sich in ihr Zimmer ein und war gerade damit beschäftigt, sich auszukleiden, als die Baronin zaghaft an die Türe klopfte.
Sarah öffnete, und Gertrude von Schell fiel ihr weinend um den Hals: »Miss Jones, das haben Sie großartig gemacht!« schluchzte sie. Sarah hatte geglaubt, die Baronin sei eine Frau ohne Tränen, hart und unerbittlich gegen andere wie gegen sich selbst. Nun aber stammelte die alte Dame unter Tränen: »Wie soll ich Ihnen danken, Miss Jones! Verzeihen Sie mir, ich habe Ihnen unrecht getan!«
Es schien, als sei Gertrude von Schell sich plötzlich der Verfehlungen und Schlechtigkeiten ihres langen Lebens bewußt geworden, als wollte sie wiedergutmachen, was sie an Boshaftigkeit und Hinterlist über andere ausgeschüttet hatte. Dennoch empfand Sarah die unerwartete Anbiederung der Baronin eher als unangenehm. Sie hatte das Geschehen der letzten Stunden noch nicht verarbeitet, und sie fühlte sich einfach nicht in der Lage, der Alten zu erklären, daß nicht sie den Rückzug der tobenden Menge bewirkt hatte, sondern ein kleines, unverhofftes Wunder.
»Schon gut, Baronin«, meinte Sarah, nachdem sie sich aus der unangenehmen Umklammerung befreit hatte. »Ich werde morgen meinen Koffer packen, dann können wir uns beide in Erinnerung behalten, wie uns gerade lieb ist.«
Gertrude von Schell ließ sich auf das Bett nieder. Unwillig schüttelte sie den Kopf, und dabei verzog sie im Schein der Petroleumlampe das Gesicht, als empfände sie Schmerz über das Gesagte. Dann meinte sie: »Sie sollten mich anhören, bevor sie eine falsche Entscheidung treffen, Miss Jones.«
»Also gut, ich höre.« Sarahs Antwort klang
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