Der König von Luxor
nach Hause geschickt. Das kann ich nicht dulden, Miss Jones!«
Sarah hatte längst erkannt, daß sie unüberlegt und überstürzt gehandelt hatte. Nun versuchte sie, ihr Handeln zumindest zu erklären: »Baronin, es ging um den jungen Carter. Er verschwand über Nacht mit einer Schaustellertruppe. Ich dachte, ich müßte ihn zurückholen.«
»So, dachten Sie. Und wo ist er? Haben Sie ihn mitgebracht?«
Sarah ließ den Kopf hängen. »Ich habe ihn gefunden. Aber zur Rückkehr bewegen konnte ich ihn nicht.«
»Dafür haben Sie Ihre Klasse im Stich gelassen, Miss Jones, ein verantwortungsloses Verhalten. Ich habe Sie gewarnt. Sie sind entlassen! Ich gebe Ihnen drei Tage. Dann will ich Sie hier nicht mehr sehen. Haben Sie mich verstanden?«
Sarah Jones sah Gertrude von Schell fassungslos an. »Ich habe es nur gut gemeint…«
»Ach wirklich?« Der Baronin war die Erregung anzusehen, und obwohl sie sich größte Mühe gab, ruhig zu bleiben, mißlang das Vorhaben: »Ich hatte vom ersten Tag an den Eindruck, daß Sie Ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind.« Die Augen der alten Dame funkelten böse.
Sarah war wütend, so wütend, daß sie kurz daran dachte, der bissigen Alten vor die Füße zu spucken und zu sagen: Und ich hatte vom ersten Tag an den Eindruck, daß Sie eine unausstehliche Kröte sind, Mrs. Gertrude von Schell! Aber dann besann sie sich auf ihre Höflichkeit als beste Waffe, und sie verneigte sich und erwiderte: »Wie Sie meinen, Frau Baronin.« Scheinbar gelassen ging sie aus dem Zimmer. An der Türe drehte sie sich noch einmal um und sagte: »Übrigens, ich hatte ohnehin vor zu kündigen.«
In Wahrheit traf die Kündigung Sarah tief. Ihre Zukunft lag ungewiß vor ihr wie undurchdringlicher Nebel. Kein Geld, keine Anstellung, keine Wohnung. In Mißlichkeiten neigt der Mensch zu ungewohnter Frömmigkeit. Sarah hingegen schloß sich in ihr Zimmer ein, warf sich auf ihr Bett, starrte mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zur Decke und dachte nach.
Cambridge, diese aufregende Stadt am Cam mit ihren zahllosen Colleges und Schulen, ging ihr nicht aus dem Sinn. Vielleicht gab es auch dort eine Dame-School, die eine Lehrerin suchte. Ihr Entschluß stand fest.
Unerwartet erlangte der folgende Tag für Sarah Jones eine besondere Bedeutung, obwohl der Anlaß eher traurig war. Sarah nannte ihn später einen Schicksalstag; denn das Schicksal ist ohnehin erfinderischer als der Mensch.
Gertrude von Schell war bekannt für ihre unerbittliche Strenge, mit der sie den ihr anvertrauten Mädchen begegnete. Strenge, pflegte sie zu sagen, ist der Zuchtmeister des Glücks. Das widersprach der Auffassung von Miss Jones, und darüber waren sie sich mehr als einmal in die Haare geraten, weil Sarah sich weigerte, einen Schlagstock zu gebrauchen. Der Stock, meinte die Baronin, habe noch keinem Mädchen geschadet.
In Swaffham war das bekannt. Hinter vorgehaltener Hand wurde jedoch getuschelt, daß die Mädchen reicher Eltern – wie die McAllen-Töchter – noch nie mit dem Schlagstock der Baronin Bekanntschaft gemacht hatten, während die ärmeren, deren Eltern weniger Schulgeld bezahlten, häufig ihren Unmut zu spüren bekamen.
Zu ihnen zählte Ireen. Sie war klein und zerbrechlich und wirkte wie ein Kind, obwohl sie sechzehn Jahre zählte. Ihre Mutter – der Vater war vor ein paar Jahren am Aussatz gestorben, den er von einer Indienreise mitgebracht hatte – führte einen Krämerladen am Marktplatz, der sie und die Tochter ernährte. Das Geld für die Dame-School forderte die letzten Ersparnisse. Aus Gründen, die niemand erklären konnte, wurde Ireen von ihren Mitschülerinnen nur »Blümchen« gerufen.
Ein schwächliches Mädchen wie »Blümchen« hatte kaum Feinde, weil das Mitleid stets auf ihrer Seite war – zumal sie sich auch in der Schule weder durch gute noch durch schlechte Leistungen hervortat. Baronin von Schell hingegen, ihre Lehrerin, ließ kaum eine Gelegenheit aus, »Blümchen« vor der Klasse zu demütigen oder sie der Lächerlichkeit preiszugeben, und mehrmals schon hatte sie das Mädchen mit dem Stock geschlagen.
Beim letzten Mal war »Blümchen« vor der strengen Baronin fortgelaufen, und aus Angst vor weiteren Schlägen oder aus Scham vor den anderen Mädchen hatte sie sich drei Tage geweigert, in die Schule zurückzukehren. Das lag nun ein halbes Jahr zurück.
An diesem heiteren Frühlingstag, durch die geöffneten Fenster des Klassenzimmers drang Vogelgezwitscher, stand Geschichte auf dem
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