Der König von Luxor
die bisher nicht auffallend genug sein konnte, zeigte sie sich eher dezent, was ihrem Erscheinungsbild jedoch in keiner Weise abträglich war.
Als Phyllis beschloß, in Ägypten zu bleiben und für ihren Onkel zu arbeiten, da konnte ihre Mutter nicht umhin, die Tochter an ihre eigenen Worte zu erinnern: »Sagtest du nicht, dieses Land sei dir zu schmutzig, das Essen unbekömmlich und das Wetter zu heiß?«
»Und wenn schon«, erwiderte Phyllis schnippisch, so, wie man es früher von ihr gewohnt war. »Was kümmern mich meine Worte von früher!«
So kam es, daß John und Amy Walker ihre Tochter Phyllis zurückließen, als sie nach zwei Wochen abreisten.
K APITEL 31
Zur gleichen Zeit – es mag nicht derselbe Tag gewesen sein, aber dieselbe Woche war es bestimmt – verließ Miss Sarah Jones das sechsstöckige Tenement, einen Wohnblock aus braunem Backstein an der Lower Eastside von New York. Noch hatte der Frühling nicht Einzug gehalten in Manhattan, und vom East River pfiff ein unangenehmer Wind durch die Straßen.
Bekleidet mit einem grünen Kostüm und einem kleinen, kecken Hut, hob sich Miss Jones deutlich ab vom Erscheinungsbild der übrigen Leute, die um die Morgenstunde die Orchard Street bevölkerten. Obwohl sie die Sechzig schon erreicht hatte, ein Alter, in welchem andere Frauen sich längst der Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Aussehen hingaben, zeigte Sarahs Gestalt noch immer jenes ansehnliche Ebenmaß, das sie schon in jungen Jahren ausgezeichnet hatte.
Natürlich waren in ihrem Gesicht jene Spuren zu erkennen, die eine bewegte Vergangenheit unauslöschlich eingräbt, ein paar Kummer- und Sorgenfalten, aber ihrer Schönheit – ja, man konnte sie wirklich noch schön nennen – taten diese kleinen Schrammen des Lebens keinen Abbruch.
In jeder anderen Straße der Welt hätte Sarahs Erscheinungsbild vermutlich Aufmerksamkeit erregt, nicht so in der Orchard Street, der aufregendsten der ganzen Lower Eastside, wo sich Einwanderer aus Rußland, Polen, Ungarn und Deutschland, vor allem Juden aus der ganzen Welt, ein Stelldichein gaben. Schilder mit hebräischen, russischen und europäischen Schriftzeichen ragten an langen Stangen in die Straße, die an der Houston Street ihren Anfang nahm und erst sieben Straßenzüge weiter, an der Canal Street, endete. Dort befand sich auch der erste Wolkenkratzer der Lower Eastside, ein unübersehbares Symbol aufstrebender Haltung für die meist ärmlichen Bewohner der Gegend.
Aus den kleinen Läden, die sich bis auf die Straße ausbreiteten und unter den eisernen Balkons Schutz suchten, welche durch Z-förmige Feuerleitern miteinander verbunden waren, wehte Essensgeruch. Der Duft von frisch Gebackenem mischte sich mit penetrantem Fischgestank. Es roch nach Leder und exotischen Gewürzen. Kurz, die Gegend war nicht gerade vornehm.
Obwohl sie durch den Verkauf der Dame-School inSwaffham in der Lage gewesen wäre, sich andernorts niederzulassen, war Sarah Jones in der Lower Eastside hängengeblieben. Das war dreißig Jahre her, und sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, in einem anderen Stadtteil als diesem zu leben. Ein volles Jahr war Sarah nach ihrer Ankunft in New York orientierungslos umhergeirrt, enttäuscht hatte sie sich sogar schon mit dem Gedanken getragen, nach England zurückzukehren, als sie einem Beamten der Einwanderungsbehörde begegnete, einem gebürtigen Amerikaner, dessen Eltern aus Manchester eingewandert und seit Jahren tot waren.
William Salt, so sein Name, den auszusprechen Sarah vermied, verschaffte ihr nicht nur eine Anstellung in der Seward Park School, einer privaten Anstalt, die sich vor allem um die Sprachausbildung europäischer Einwanderer kümmerte, sondern auch das nötige Selbstvertrauen, um ein neues Leben zu beginnen.
Die Begegnungen mit dem gutaussehenden Mann aus Brooklyn jenseits des East Rivers verliefen in ungewöhnlicher Harmonie und führten Sarah zu der Erkenntnis, William wäre durchaus ein Mann zum Heiraten. Bedenkenlos kam sie seinen Forderungen nach und übereignete ihm größere Summen aus ihrem Vermögen. Sie kannten sich schon drei Jahre, und Sarah wußte nicht einmal, wo William Salt eigentlich wohnte. Als sie eines Tages die von ihm angegebene Adresse aufsuchte, mußte sie feststellen, daß William sie belogen hatte. Die Adresse war falsch. Da entschloß sich Sarah Jones zu einem ungewöhnlichen Schritt: Sie verfolgte Salt von der Behörde bis zu den Brooklyn Heights, wo William in einem der
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