Der König von Luxor
er von seinen Aufgaben und Geschäften. Gefragt, ob ich Sorgen oder Kummer habe, hat er mich noch nie.«
Während Carter seinen Zeichenstift mal senkrecht, mal waagerecht vor die Augen hielt, um Maß zu nehmen, und sich von seiner Arbeit nicht abhalten ließ, fragte er Alicia: »Hast du denn Sorgen und Kummer?«
Da wurde das kleine rothaarige Mädchen, das immer zum Scherzen aufgelegt war, auf einmal ernst und wischte sich mit dem Ärmel ihres Kleides über die Nase. »Es gefällt mir nicht, daß meine Mutter es sich zur Lebensaufgabe gemacht hat, ihre fünf Töchter standesgemäß und ohne Rücksicht auf unsere Gefühle zu verheiraten. Viermal ist es ihr schon gelungen.«
»Dann bist du also die letzte«, stellte Carter fest, ohne von seiner Arbeit aufzusehen.
»So ist es. Manchmal könnte ich sie erwürgen. Warum, glaubst du, wurde Lord Carnarvon eingeladen?«
»Ich verstehe. Du magst Carnarvon wohl nicht?«
»Ich kann den eitlen Gecken nicht ausstehen und hatte Streit mit meiner Mutter, weil sie mich beim Dinner neben ihm plazieren wollte. Ich drohte ihr mit einem Skandal. Zur Strafe wurde ich, wie du weißt, an das untere Tischende gesetzt. Das war auf jeden Fall amüsanter.«
»Aber Carnarvon ist kein uninteressanter Mann! Er ist jung und gebildet und hat schon viel erlebt.«
»Das ist noch lange kein Grund, ihn zu heiraten!« spottete Alicia. »Im übrigen sehe ich überhaupt keinen Anreiz, jemals zu heiraten.
Man sollte es, wenn es irgend geht, vermeiden. Für eine Frau bedeutet es doch nichts anderes, als ihre Rechte zu halbieren und ihre Pflichten zu verdoppeln.«
Carter lachte. »Deine Ansichten über Männer scheinen nicht die besten zu sein, Alicia. Hast du schlechte Erfahrungen gemacht? Das wäre bedauerlich.«
»Gott bewahre! Ich habe viel gelesen. Das reicht mir.«
»Dann warst du auch noch nie richtig verliebt!«
»Nein. Ich hatte noch nicht das Vergnügen.«
Carter schien in seine Zeichnung vertieft, aber in Wahrheit war er mit seinen Gedanken weit fort, und mit dem Zeichenstift zog er nur bereits vorhandene Konturen nach. Schließlich meinte er: »Das kann schneller passieren, als du glaubst. Vor allem kommt es plötzlich und trifft dich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Es hält dich gefangen, und du weißt nicht mehr ein noch aus. Du willst nichts anderes, als dieses geliebte Wesen besitzen. Dafür bist du bereit, dein letztes Hemd zu geben, dich zu erniedrigen, du machst dich zur lächerlichen Figur, aber es macht dir nichts aus. Du wirst blind für alles andere und siehst nur noch das, was du liebst. Bist du ein Kind, dann wirst du von einem Augenblick auf den anderen erwachsen, bist du erwachsen, wirst du wieder ein Kind. Alles verdreht sich, und du gerätst in einen Taumel, und es reißt dir den Boden unter den Füßen weg…«
»He, Carter!« Alicia faßte Howard an den Schultern und gab ihm einen Schubs, um ihn in die Wirklichkeit zurückzuholen. »Das klingt nicht gerade so, als hättest du es in einem Buch gelesen!«
»Habe ich auch nicht!« erwiderte Howard eigensinnig.
Und Alicia meinte spitz: »Ach?«
Howard brummelte irgendeine Entschuldigung und widmete sich seiner Zeichnung mit neuer Heftigkeit, während Alicia ihn interessiert beobachtete.
Nach einer Weile, nachdem beide unsicher vor sich hingeschwiegen hatten, sagte das Mädchen: »Das interessiert mich. Willst du mir nicht erzählen, was du erlebt hast?«
»Nein!« antwortete Howard kurz angebunden.
Aber Alicia ließ nicht locker: »Und warum nicht? Darf man vielleicht den Grund erfahren?«
»Nein!« wiederholte Carter.
»Dann eben nicht!« Trotzig wandte sich Alicia ab und machte Anstalten, das Gewölbe zu verlassen. Aber noch bevor sie die Türe erreichte, rief ihr Carter nach: »Bleib, Alicia. Ich wollte dich nicht kränken. Es fällt mir nur schwer, darüber zu sprechen. Liebe ist eine geheimnisvolle Sache, und wer ihr begegnet, dem raubt sie die Vernunft.«
Carters Worte steigerten Alicias Neugierde. Sie kehrte um und sah Howard fragend an. Aber der befand sich in einem Zwiespalt: Er hatte das Bedürfnis, sein Glück mitzuteilen, aber gleichzeitig plagten ihn Gewissensbisse, das Geständnis abzulegen, wem seine rasende Zuneigung galt. Während er also mit sich kämpfte, hörte er Alicia sagen: »Weißt du, ich kann da nicht mitreden. Ich habe mich noch nie verliebt, und manchmal gerate ich in Zweifel, ob es überhaupt je geschehen wird.«
»Unsinn!« fiel Howard Alicia ins Wort. Ihre Ehrlichkeit
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