Der König von Sibirien (German Edition)
homosexuell«, stand darauf zu lesen. Und darunter: »Ich habe schon etwas in die Wege geleitet. In einer Woche ist es soweit.«
Der Zettel verschwand sofort in Minsks Jackentasche.
Wieder in seiner Zelle, war Alexander beruhigt. Minsk würde das schon hinbekommen.
Vier Tage später war er wieder frei. Larissa weinte vor Freude, aber in ihren Augen konnte er die unausgesprochene Frage lesen: Muss ich jetzt immer damit rechnen, dass man dich verhaftet? Wird das denn nie enden? Alexander versuchte sie zu beruhigen: Besmertisch sei nun mal ein Schwein, der jeden Vorteil für sich ausnutze. Es gebe nur eine Möglichkeit, mit ihm zurechtzukommen, indem man ihn füttere, und zwar mit der einzigen Nahrung, die er möge und von der er nie genug bekommen könne: Geld.
Er lag neben Larissa im Bett. Beim Lieben mussten sie vorsichtig sein, in sechs Wochen, so der Arzt, sei ihr Termin.
»Wann hört die Ungewissheit auf?«
»Wenn ich sterbe«, antwortete er lapidar. Seine Unruhe, darüber war er sich im Klaren, würde tatsächlich erst mit dem Tod enden.
»Kannst du denn nichts dagegen unternehmen?«
»Es gibt nun mal mich und meine Vergangenheit. Nur deshalb hat Nikolai mich akzeptiert, nur deshalb bin ich Sprecher des Bundes geworden. Mit den Nachteilen meines Lebenslaufes muss ich mich eben abfinden. Es wird sich immer jemand finden, der mich fertigzumachen versucht.«
»Warum tun Menschen das?«
»Larissa, wenn du das unwürdige Vegetieren in einem Lager kennengelernt hättest wie ich, dann brauchtest du das nicht zu fragen. Du würdest höchstens nach einer Erklärung suchen, warum und mit welchem Recht Menschen auf dieser Welt leben. Hätten Tiere nur eine unserer perfiden Eigenschaften - wie Hinterlist, Heimtücke oder krankhaften Neid -, man würde sie ausrotten. Erst recht diejenigen, die sich an der Qual anderer weiden, sie bewusst herbeiführen und, als scheinbaren Beweis für ihre Macht und Überlegenheit, auch noch mit gierigen Augen zuschauen. Unsere Peiniger stellen sich ein Armutszeugnis erster Güte aus und geben einen Defekt zu, der sie von normalen Tier sehen unterscheidet.«
»Wie viele haben diesen Defekt?«
Alexander verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Unter bestimmten Bedingungen mit der entsprechenden Situation konfrontiert, fast jeder.«
»Auch ... Zivilisierte, Gebildete, die den Wert eines Menschenlebens ermessen können?«
Er nickte. »Zwanzig Professoren auf einer einsamen Insel, die nur fünf von ihnen Nahrung bietet. Eine Woche vielleicht erinnern sie sich noch an Herkunft und Erziehung, diskutieren das Problem und versuchen es zu lösen. Aber mit dem großen Hunger werden sie zu Mördern und Kannibalen.«
Die Jakuten erkannten Alexander an, und Geriak war bestrebt, die unangenehme Unterhaltung vom vergangenen Jahr vergessen zu machen. Bei allen nur denkbaren Gelegenheiten lud er Alexander ein und versicherte ihn seiner Loyalität und der seines Volkes. Aber die Einladungen ergingen nicht ohne Absicht. Geriak bemühte sich, eine enge Bindung zwischen Alexander, und damit dem Bund, und den Jakuten herbeizuführen. Er zeigte ihm stets andere Landesteile, als legte er es darauf an, dass Alexander die autonome Republik und die Bewohner kennenlernte und respektierte, Einblick in die Historie gewann und Verständnis für die ungewöhnliche Entwicklung aufbrachte, eine Mischung aus überliefertem Brauchtum, althergebrachten, teilweise brutalen, unverständlichen Riten und Sitten eines Naturvolkes und den Errungenschaften der modernen Zivilisation des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts.
Vor und bei jedem Treffen gab es ein bestimmtes Problem zu bereden. Geschickt versuchte Geriak auszuloten, inwieweit Alexander Kompetenz zeigte und zugleich die Eigenständigkeit seines Volkes achtete. Er tat es vor allem deswegen, weil er Alexander bei der »Wiedergutmachung«, als die dicke Frau die beiden Vergewaltiger vergewaltigte und bestrafte, beobachtet und dessen ablehnende Reaktion mitbekommen hatte.
Dieses Mal sollte es zur Jagd gehen, und Minsk meinte, es sei eine Auszeichnung, wenn die Jakuten, ein traditionelles Jagdvolk, Alexander dazu aufforderten.
Ein Hubschrauber brachte Alexander, Geriak und noch zwei weitere Einheimische nach mehrstündiger Flugzeit von Jakutsk in die Nähe der Stadt Njurba, etwa dreihundert Kilometer weiter im Westen. Alexander betrachtete die Wald-und Sumpflandschaft unter sich, die der beginnende Winter bereits mit Schnee und Eis überzogen hatte. Geriak
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