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Der König von Sibirien (German Edition)

Der König von Sibirien (German Edition)

Titel: Der König von Sibirien (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edwin Klein
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Verschluss, die meisten wurden diskret von Armeeangehörigen geliefert. Obst hielt sich bei entsprechender Pflege, alle zwei Tage war es zu drehen, bis weit über die Jahreswende.

    Im Mai wurde Alexander Zeuge eines gigantischen Naturschauspiels. Er saß nur in Hose und luftigem Pullover gekleidet am zugefrorenen Jenissei, denn die Sonne schien schon seit zwei Wochen voller Kraft, schleuderte ihre grellen Blitze in die Landschaft und wärmte sie. Plötzlich bemerkte er auf dem Eis ein dünnes Rinnsal Wasser von weiter oberhalb, wo der Fluss bereits aufgetaut war. Das Rinnsal wuchs, wurde zu einem kleinen, auf dem Eis fließenden Bach. Und dann war ein Singen in der Luft, das in Knistern überging. Der Boden erzitterte, das Knistern, hell und fein, schwoll an, wurde dumpfer und von einem brüllenden Knallen abgelöst. Kurz darauf hörte er ein Geräusch wie das Rumpeln von schweren Steinblöcken bei einer Lawine, die zu Tal stürzte. Jetzt war kein Bach mehr auf dem Jenissei, sondern ein Fluss, der Eisstücke mit sich führte, die über das Untereis schrammten. Unvermittelt brach der Jenissei auf.
    Breite Risse zogen sich über den Strom wie Adern, große Schollen lösten sich, stellten sich auf, blockierten andere, die sich dahinter stauten. Ein Berg von Eis, weiß, grau und in verschiedenen Blautönen, alles ineinander verkeilt, aufgeschichtet, hochgetürmt, versuchte dem Druck des nachströmenden Wassers standzuhalten. Und wie das Brechen eines übervollen Dammes, genauso platzte diese Naturbarriere mit ohrenbetäubendem Poltern auf. Wasser und Eis zeigten ihre Muskeln, Blöcke kullerten und bollerten übereinander und zermalmten sich gegenseitig. Schollen, eine schubste die andere an, tanzten auf dem quirligen, brodelnden Fluss, der nach erzwungener Winterpause schäumend und gurgelnd dem Eismeer zuströmte.

    Der Sommer, so kurz, als wäre er ein Urlaub vom Winter und lediglich eine Verschnaufpause für die Kälte, verflog rasend und neigte sich schon Anfang August dem Ende entgegen. Alexander bemerkte eine Unruhe unter den Soldaten, die, durch Befehl von oben in ständige Alarmbereitschaft versetzt, oft lange an den Tischen saßen, ihre Köpfe zusammensteckten und diskutierten. Für Alexander war das heimliche Getue ungewöhnlich, denn normalerweise gaben sie sich wesentlich offenen Schließlich bekam er mit, was der Grund war: der Einmarsch der Roten Armee in Prag, der Hauptstadt der Tschechoslowakei, einer sogenannten Brudernation.
    »Warum besetzen wir ein befreundetes Land?« fragte Alexander den grobschlächtigen Oki. »Sind wir denn nicht alle gleichberechtigte Partner?«
    Oki kratzte sich den kurzgeschorenen Schädel mit den abstehenden Ohren und überlegte. »Weil es unsere Hilfe braucht, die Hilfe des großen Bruders.« Dann wurde Oki philosophisch: »Der große Bruder passt immer auf die jüngeren Geschwister auf.«
    Alexander spielte den Unwissenden, und Oki klärte ihn auf. »Ergibt sich für die sozialistische Gemeinschaft eine Gefahr, dann müssen sich alle andere Staaten um dieses Land kümmern. Damit ist zeitweise für dieses Land eine gewisse Einschränkung verbunden, bis die Normalität wieder hergestellt ist.«
    Allgemeinverständlich erklärte Oki mit eigenen Worten, was die Politoffiziere ihm und den anderen Soldaten während des Sommers auf den diversen Schulungsabenden vermittelt hatten. Im Grunde genommen war es nichts anderes als die verkürzte Wiedergabe der als Breschnewdoktrin bekanntgewordenen These, die als Alibi dazu diente, gegen die Reformbewegungen der CSSR und deren Experiment des »demokratischen Sozialismus mit menschlichem Antlitz« vorzugehen.
    »Aber es muss doch etwas vorgefallen sein«, gab Alexander zu bedenken.
    Oki gefiel das Nachfragen überhaupt nicht, denn bei den Schulungen hatte man sich das stets verbeten. Und weil er selbst auch nicht genau wusste, was der eigentliche Anlass für die Invasion war - warum sollte er sich Gedanken machen, die da oben wissen schon, was zu tun ist - bastelte er sich eine Version zurecht, die ihm schlüssig erschien. »Die CSSR liegt näher bei den imperialistischen Staaten als wir, deshalb ist das Land eher gefährdet, was die Infiltration betrifft.« Das Wort Infiltration bereitete ihm einige Schwierigkeiten. Mit einem unwilligen Unterton, der das Ende der Diskussion signalisierte, fügte er hinzu: »Verstehst du das jetzt endlich?«

    Alexander hatte sich längst eingelebt, und die Körpermasse von Rima machte ihm, wenn ihr nicht

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