Der Königsberg-Plan: Thriller (German Edition)
daran erinnern, die Abtei überhaupt betreten zu haben.
Sie haben mich vor dem Eingang geschnappt! Ein Mann hatte ihr ein Tuch aufs Gesicht gepresst. Das war alles, an was sie sich noch entsinnen konnte.
Wie zum Teufel hatte das bloß passieren können? Sie hatte doch alles unter Kontrolle gehabt, hatte jeden Besucher sorgfältig beobachtet, der die Grand Rue hinaufkam. Zornig über sich selbst, versuchte sie die Ereignisse vor dem Kloster wieder heraufzubeschwören, doch sie konnte sich an nichts Verdächtiges erinnern.
Durch ihre Nachlässigkeit hatte sie alles vermasselt. O Gott, durchfuhr es sie jäh, was ist bloß aus Benjamin geworden?
Er hatte auf sie vertraut und gewartet, und sie war nicht gekommen. Stattdessen aber Thalbergs Mörderbande.
Der Gedanke an ihn schnürte ihr vor Sorge die Luft ab.
In den verklebten Ohren vernahm sie ihr eigenes, durch den Knebel ersticktes Schluchzen. Eine traurige Musik, die den Taktstock für ihre Selbstvorwürfe schwang, und ihr Körper bäumte sich auf wie ein verletztes Tier im Todeskampf. Wieder schnitten die Fesseln schmerzhaft in ihre Handgelenke, und dann sah sie die Sinnlosigkeit ihrer quälenden Gedanken auf einmal ein.
Es war, wie es war.
Sie musste das akzeptieren, sonst verspielte sie vielleicht ihre letzte Chance. Wenn es denn überhaupt noch eine gab.
Gleichmäßig atmete sie ein und aus, bis sie das Gefühl hatte, ihre Selbstkontrolle weitestgehend wiedererlangt zu haben. Sie zwang sich, die Angst zu verdrängen und ihre Gedanken zu ordnen, wie jemand, der ein umgefallenes Schachspiel wieder aufstellt.
Geh davon aus, dass Benjamin noch lebt. Geh davon aus, dass Maria noch lebt. Geh davon aus, dass Paul noch lebt. Was kannst du tun?
Die Gedanken taten ihr gut und beruhigten sie, aber eine Frage drängte sich auf. Warum lebst du eigentlich noch?
Verblüfft hielt sie inne. Thalberg wollte sie ganz offensichtlich nicht umbringen. Verwirrt drehte sie diese Erkenntnis in ihrem Kopf hin und her.
Wusste Thalberg, dass sie Marias Enkelin war? Möglich.
Gab es noch eine Verbindung zwischen Thalberg und ihrer Oma, die Maria nicht offenbart hatte? Thalberg war jedenfalls nicht ihr Großvater. Das hatte Maria ihr gesagt, und sie glaubte ihr. Aber was war dann der Grund dafür, dass sie noch lebte? Oder sollte sie nur an einen anderen Ort gebracht werden, damit man sie dort verhören konnte?
Wie das Verhör ablaufen würde, musste sie sich nicht lange ausmalen. Sie wischte die düstere Überlegung beiseite.
Instinktiv schloss sie die Augen, was in der Dunkelheit eigentlich keinen Unterschied machte, ihr aber einen letzten Rückzug ermöglichte. Tief verkroch sie sich in ihrem Inneren.
Sie dachte an Maria und ließ sich von ihr in Gedanken streicheln.
So blieb sie lange regungslos liegen. Die Bilder in ihrem Kopf wechselten schließlich von ihrer Großmutter zu Benjamin. Sie spürte gerade seinen Kuss auf den Lippen, als ihr Körper ohne jede Vorwarnung wie von einer unsichtbaren Hand nach vorne gedrückt wurde. Augenblicklich wusste sie, wo sie sich befand.
Das Gefühl hatte sie schon unzählige Male vorher erlebt. Es war die Bremswirkung eines Autos, die sie nach vorne gezogen hatte. Sie wurde also in einem Wagen transportiert, wahrscheinlich im Kofferraum, wofür auch die stickige Luft sprach, die sie umgab.
Aber wohin brachte man sie? Und wer hatte sie in den Wagen geschafft?
Plötzlich bremste das Fahrzeug erneut stark ab, und kurz darauf wurde sie mehrfach durchgeschüttelt. Sie schlug hin und her, bis der Wagen schließlich abrupt stehenblieb. Ohne auf die schmerzenden Handgelenke zu achten, lauschte sie, konnte aber bis auf ihren pochenden Herzschlag nichts hören. Nach ein paar Sekunden nahm der Wagen wieder Fahrt auf. Es ging jetzt langsamer voran, doch noch immer ruckelte und wankte das Fahrzeug. Offensichtlich lenkte der Fahrer es nicht mehr über eine ausgebaute Straße, sondern über einen Feldweg mit vielen Schlaglöchern.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie plötzlich eine verlassene Hütte im Wald, in die sie von vermummten Männern geschleppt wurde. Ihr stockte der Atem, und sie musste an die Aufnahmen von Annes geschundenem Körper denken. Sollte sie auch vergewaltigt und gefoltert werden? Die Furcht stürzte wie ein tonnenschwerer Stein auf sie herab. Tränen füllten ihre Augen, und sie glaubte, vor Angst den Verstand zu verlieren. Mit letzter Kraft konzentrierte sie sich darauf, langsam und gleichmäßig gegen den völligen Verlust
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