Der Königsschlüssel - Roman
wurde doch schon ewig keine mehr gesehen«, sagte Vela abschätzig.
Aber dann dachte sie an die fremde Frau in ihrem Dorf, die ihr eine Gänsehaut verursacht hatte, und plötzlich war sie sich überhaupt nicht mehr sicher.
Cephei sagte nichts mehr, aber er lief auch nicht langsamer. Erst, als sie den Rastplatz erreicht hatten, beruhigte er sich ein wenig. Trotzdem blickten sie abwechselnd zwischen die Bäume.
Sicher war auch dieser Hexenstein - wenn es überhaupt einer war! - schon lange nicht mehr in Benutzung, sagte sich Vela. Aber wohl war ihr bei dem Gedanken, dass dieses Ding in ihrer Nähe war, auch nicht. Sie konnte sich einfach nicht erinnern, ob auf dem Felsen dunkle, eingetrocknete Flecken gewesen waren oder nicht.
Vorsichtshalber behielt sie den Hammer in der Hand.
Als Urs nach einer Stunde zurückkam, hatte er die Armbrust über den Rücken geworfen. In der Hand hielt er ein Tier, das so groß war wie ein ausgewachsener Hase, aber ein gepunktetes Fell und ein braunes Geweih besaß.
Bevor er etwas sagen konnte, rief Cephei schon: »Wir müssen weg hier!«
»Was ist denn in dich gefahren?«
»Vela hat einen Hexenstein gefunden.«
Fragend sah Urs Vela an, die nervös von einem Fuß auf den anderen trat.
»Als ich in den Büschen war, um … na, du weißt schon. Auf dem Rückweg bin ich noch weiter vom Weg abgekommen, und da stand das Ding plötzlich. So ein quadratischer Stein mit komischen eingeritzten Symbolen in der Oberfläche. Cephei behauptet, das wäre ein Opferaltar … Er war aber auch schon ganz vermoost«, fügte sie leise hinzu.
»Wahrscheinlich ist er uralt«, meinte Urs, ging aber trotzdem zu seinem Rucksack. »In Ordnung, wir gehen noch ein Stück, dann fühlen wir uns alle besser. Was immer es ist, wir bringen ein bisschen Abstand zwischen uns und dieses Ding. Dann gibt es eben später Mittagessen.« Er band das Tier oben auf den Rucksack, die Armbrust behielt er in der Hand. Seine grimmige Miene beruhigte Vela nicht gerade.
Wenn Urs lieber weiterging, als zu rasten und seine erfolgreiche Jagd zu genießen, dann war an dem, was Cephei behauptete, vielleicht wirklich etwas dran.Hastig packten auch Cephei und Vela. Bevor sie den Rucksack aufsetzte, holte sie noch das Taschenmesser ihres Vaters heraus und steckte es in die Hosentasche. Das hätte sie schon viel eher tun sollen. Im Zweifelsfalle nützte es nicht nur beim Wurzelschneiden, sondern auch beim Verteidigen. Den Hammer steckte sie zwar wieder an den Gürtel, klemmte aber das Hemd dahinter fest, so dass sie jederzeit nach ihm greifen konnte, ohne sich im Stoff zu verfangen.
Dann marschierten sie los. Urs führte sie weiter nach Süden. Durch das Unterholz und durch einen gespaltenen Hügel. In der kleinen Schlucht gab es ein Echo, das Cephei dazu nutzte, um laut »Ho! Ho!« zu rufen, bis Vela ihn an die Schulter tippte.
Hinter dem Hügel wurde der Wald wieder dichter. Kein Wunder, dass die Händler nicht durch den Rauschwald fahren , dachte Vela. Wie sollten sie mit den Lastkarren durch dieses Gestrüpp kommen?
Das Laufen war anstrengend, und der ständige Kampf mit den Zweigen ermüdend. Sie liefen, so schnell sie konnten, und schon nach kurzer Zeit rasselte ihnen der Atem. Die Fahrt in der Doppelkutsche nach Marinth war zwar auch nicht gerade angenehm gewesen, aber in diesem Moment sehnte sich Vela ein kleines bisschen nach dem holprigen Gefährt.
DAS HAUS IM WALD
Als Vela gerade eine Rast vorschlagen wollte, betraten sie auf einmal eine kleine Lichtung, in deren Mitte ein einzelnes Haus stand. Es war kein gewöhnliches Haus. Merkwürdig genug, dass es hier mitten im Wald stand, wo weit und breit keine Nachbarn zu finden waren, war es auch nicht aus dem vertrauten Roststein gebaut, der in dieser Gegend so typisch war. Die Außenwände bestanden aus langen Flechten gelber, roter und hellgrüner Blätter.
Aber das Ungewöhnlichste war, dass das Haus auf einem großen Fuß stand: einem schwarzen, zerfurchten Vogelfuß. Die vier Zehen gruben sich tief in den Boden, und jede war viel dicker als Velas Oberschenkel. Eine Zehe war mit weißem Stoff umwickelt, vielleicht war sie verletzt worden. Die Krallen reichten wie Wurzeln unter die Erde - Vela konnte sich nur ausmalen, wie groß und scharf sie sein mochten.
»Das ist ein Hexenhaus«, flüsterte sie Cephei zu und zerrte die beiden anderen hinter die nächstgelegenen Büsche. Sie schluckte schwer, und ihr Herz schlug vor Angst schneller. »Mein Großvater hat mir davon
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