Der Königsschlüssel - Roman
plötzlich nicht mehr wütend. Sie räusperte sich und versuchte, streng auszusehen, indem sie die Stirn runzelte und die Augenbrauen zusammenzog. »Na gut. Dann komm jetzt, wir müssen weiter.«
Noch einmal warfen sie einen Blick zurück, dann setzten sie ihren Weg fort, hinter ihnen rauschte der Schrottfluss, und vor ihnen lag eine weitere Etappe.
VON BAUERN UND KÜHEN
Mit jeder Stunde wurde die Landschaft hügeliger, und am Horizont konnten sie drei einsame Berge ausmachen, auf die sie der Raumgeist direkt zuführte. Die Sonne brannte vom Himmel, das Gras hatte hier eine hellere Färbung, gelblich, die Halme waren schmaler, und es stand lange nicht so dicht wie auf den Wiesen daheim.
Stundenlang waren sie am vorangegangenen Tag gewandert, ohne einen Menschen zu sehen, bis sie schließlich die Straße erreicht hatten, der sie nun folgten. Doch auch auf ihr hatten sie nur drei winzige Dörfer durchquert. Zwischen den Dörfern hatten sie keine Menschenseele getroffen. Doch nun kam ihnen ein schlaksiger Mann entgegengerannt, vor dessen Füßen ein rosafarbenes Tier galoppierte, das ihm nicht einmal bis zu den Knien reichte.
»Haltet sie! Haltet sie!«, schrie er, und Cephei und Vela stellten sich auf die Straße aus festgestampfter Erde und breiteten die Arme aus.
Aber dem Tier schien das egal, es rannte stur auf sie zu. Cephei beäugte es misstrauisch, als es näher kam. Es sah aus wie eine kleine Kuh mit kräftigen Beinen und erstaunlich großen Hörnern, und dabei war es nackt und rosa wie ein Schwein. Auf dem Rücken hatte es einen gewaltigen roten Fleck.
Als es nur noch wenige Sprünge entfernt war, brüllte Cephei ihm ein langes »Aaaaahhh!« entgegen, und es stemmte sofort die Hufe in den Boden, um abzubremsen. Direkt vor den beiden kam es zum Stehen und blickte mit großen dunkelblauen Augen
zu ihnen auf. Die Haut auf seinem Rücken schälte sich ein bisschen, der rote Fleck war ein heftiger Sonnenbrand.
Cephei musste lachen. »Na, was bist du denn?«
»Das ist eine Nacktkuh«, keuchte der schlaksige Mann, der inzwischen auch heran war, und legte ihr einen Strick um den Hals. »Sie gehört mir. Danke fürs Fangen, vielen Dank.«
Cephei musterte den Mann, der sie anlächelte und blinzelte. Er trug einfache Kleidung und roch nach Stall, sein spärliches Haar hing ihm wirr um den Kopf, und er versuchte, ihm wieder Form zu geben, indem er mit gespreizten Fingern hindurchfuhr. Er hatte ein paar Falten, doch die meisten schienen vom Lachen zu kommen, die wenigsten vom Alter. Seine Augen blickten freundlich, aber unruhig.
»Dauernd büxt mir eine aus«, erklärte er. »Die anderen sagen, das liegt an meinem Zaun. Dabei habe ich einen vorschriftsmäßigen Kuhzaun.« Er nickte eifrig. »Ja, vorschriftsmäßig, genau nach den Maßen der Königsnorm.«
»Königsnorm?«
»Ja. Einen Schritt und einen Fuß hoch, drei gleichmäßig angeordnete Querstreben. Nur die Racker kriechen einfach unter der untersten durch und rennen weg, wenn sie Lust dazu haben. Aber was langweile ich euch mit meinen Problemen. Kann ich euch etwas anbieten, immerhin habt ihr mir Cy zurückgebracht?« Er drehte sich um und winkte mit der Rechten, während er in der Linken die Leine hielt. »Kommt mit. Ihr seid nicht von hier, oder? Wisst ihr, der Zaun ist wirklich nach der Königsnorm gebaut, aber Cy ist ein großer Renner, manchmal erwische ich ihn erst nach Stunden. Und einmal hat er sich nur versteckt, und ich habe ihn den ganzen Tag gesucht. Das war, als Erk seinen ersten Hufbrand bekommen hatte.«
Und so ging es in einem fort. Der Mann erzählte ihnen von seinen Nacktkühen, bis sie alle ihre Namen kannten, nur nicht seinen eigenen, und er auch nicht ihre.
Endlich erreichten sie seinen Hof. Ein kleines, einstöckiges Steinhaus mit zwei Gebäuden aus Brettern daneben. Eine Herde Nacktkühe, alle so klein wie Cy und mit Sonnenbrand, stand auf einer Weide daneben. Der Zaun ging Cephei bis zum Kinn und sah genauso aus wie alle Kuhzäune in ihrer Heimat. Nur dass dort die Kühe viel größer waren.
Die unterste Querstrebe war tatsächlich so hoch, dass jede Nacktkuh darunter hindurchmarschieren konnte, wenn sie nur kurz den Kopf mit den langen Hörnern senkte. Cephei und Vela sahen sich verwirrt an und bissen sich dann auf die Lippen, um nicht loszuprusten.
In diesem Moment rannte eine weitere Nacktkuh los, schnurgerade unter dem Zaun hindurch und über die offenen Wiesen zu ihrer Rechten davon. Als habe sie nur darauf gewartet,
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