Der Koffer
Truthahnkeulen schwenkten. Aber Sonnie sah gar nicht, was sie aß. Sie war fasziniert von Rhetts Nüstern. Sie kommentierten jeden am Tisch gesprochenen Satz in einer eigenen Sprache, die Sonnie zu verstehen glaubte.
Während sich die anderen Dinnergäste über den Muskel unterhielten, der die Hoden hebt und Protagonist eines der Langzeitprojekte von Barneys monströser Kunst war, interessierte Sonnie der Muskel, der Rhetts Nüsternspiel erzeugte.
Als sich die Tafelrunde aufzulösen und grüppchenweise in den Zimmern herumzustehen begann, setzte Rhett sich neben sie, ein Pepsi-Glas in der Hand. Sie erinnert sich, dass sie ihn ungläubig angestarrt hatte, als er sich vorstellte, und dass sie sich verkniffen hatte,einen Rhett-Butler-Scherz zu machen. Sie erinnert sich auch, dass Rhett, wie um den komischen Effekt seines Vornamens wettzumachen, es eilig hatte, ihr mitzuteilen, dass er ein Freund von Joseph Beuys gewesen sei.
»Unterstellen Sie, dass die Bekanntschaft mit einer Berühmtheit auf die eigene Bedeutung abfärbt?«, fragte sie. »Oder wollen Sie nur angeben?«
»Beides.« Zu ihrer Überraschung hatte Sonnie heiser und tief gelacht. Sie lachte nur heiser und tief, wenn sie mondän sein wollte. Sie wollte nur mondän sein, wenn sie flirtete.
Am ersten Abend übersah sie die Larmoyanz, den Anflug von Lebensmüdigkeit, der in Rhetts Mundwinkeln hing. Sie konzentrierte sich auf das Flackern seiner hechtgrauen Augen, auf das Beben seiner Nüstern, auf das halbseitige Lächeln seines Dustin-Hoffman-Mundes, auf seine große windgebeugte Gestalt, das wirre lange graue Haar, das Verwahrloste und Verletzte, das ihm anzuhaften schien.
Es entwickelte sich ein Streitgespräch über Pflichterfüllung und Kreativität. Rhett beschrieb, wie sehr ihm während einer Restauration manchmal die Finger juckten, wie übermächtig die Verlockung sei, ein Gemälde »zu verbessern«.
Sonnie kannte die künstlerische Anmaßung der Verbesserung aus ihrer Zeit als Lektorin.
Rhett umschrieb lakonisch sein Berufsbild: »Der Restaurator schafft keine materiellen oder kulturellen Neuwerte.«
»Lektor – dito«, sagte Sonnie.
Sie lachten.
Sie flirteten.
Sie sahen einander tief in die Augen.
Sie redeten, ohne sich voneinander zu erzählen.
Genau das erlaubte ihnen morgens um vier, als Barney sie schüchtern bat zu gehen, einen alarmierenden Ton der Vertrautheit.
Die kalte Nachtluft war es, die sie zur Besinnung brachte. Zwei Fremde standen sich gegenüber. Sonnie erinnert sich an ein Aufflackern von Antipathie. Das Mondlicht hatte das Albinohafte an Rhett verstärkt. Er war ihr hässlich vorgekommen, verlebt, unecht. Sie hatte ihn nicht mehr gemocht. Mit dürren Worten hatten sie einander aufgeklärt. Sonnie war mit dem Programmkino-Besitzer Jake Woodhouse verheiratet. Rhett lebte mit der Innenarchitektin Joy Johanson zusammen.
Die Antipathie war genauso schnell verschwunden, wie sie gekommen war. Wegen ihrer stets etwas klebrigen Handflächen hatte sich Sonnie zum Abschied hochgereckt, um Rhett auf die Wange zu küssen. Diesen Moment hatte Rhett genutzt, um seine Hände auf ihren Hintern zu legen. Er hatte die Ware Sonnie geprüft und später mit seinem Stempelmund den Empfang bestätigt. Adressen hatten sie nicht ausgetauscht an jenem Abend. Sie würden sich, das schwor sich Sonnie im Taxi, nie wieder sehen.
»So viel zu Schwüren«, murmelt Sonnie und legt den müden Kopf aufs Kissen. Sie dreht sich um und greift erneut zur Fernbedienung. Sie drückt auf den roten Pfeil. Sie drückt auf den grünen Pfeil. Sie macht die Matratze hart und weich, hart und weich.
Wie oberflächlich sie diesen Mann damals wahrgenommen hatte. Körperteile, Haare, ein Geruch. Es war ihr einzig und allein wichtig gewesen, wie anders Rhett war als Jake, wie neu , als gebe das irgendeine Auskunft darüber, wie viel besser er war als Jake. Sie hatte ihn sich ausgesucht wie eine Jacke, noch dazu wie eine, von der sie wusste, dass sie ihr nicht stehen wird. Sie hatte nichts über ihn gewusst, im Taxi, auf dem Heimweg, damals, und war doch verliebt. Es ist nicht auszuschließen, denkt sie, dass Verliebtheit aus Unwissenheit geboren wird.
Was hat er ihr in all den Jahren von sich erzählt? Er ist in Manhattan geboren, auf der Upper East Side. Seine Eltern sind weggezogen. Er hat keine Geschwister. Er leidet an nervösem Kopfschmerz, den er mit Zäpfchen behandelt. Er hat Wasser in den Knien, weshalb er Treppensteigen meidet. Er ist weitsichtig. Er will
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