Der Komet
es gewusst: vox populi, vox dei. Aber Folgendes müssen Sie dabei wissen und bedenken: Die göttliche Gewalt ist unmenschlich. Immer. Die göttliche Gewalt ist barbarisch, sie schlägt über die Strenge, sie ist ihrer Tendenz nach uferlos …«
Nun geschah etwas Gespenstisch-Merkwürdiges: Maleks Gesicht begann zu schweben, es schien sich von den Schultern des Mannes zu lösen, dem es gehörte, und trieb quer durch den dunklen Raum auf Alexej zu; dabei blähte es sich immer weiter auf, bis es auf der ganzen Welt nichts mehr zu geben schien als diese Augen (blau), diese graue Mähne, diesen Silberstoppelbart. Das Riesengesicht öffnete seinen Riesenmund, Zunge und Zähne formten Laute, Silben, Wörter: »Sie haben mich nach der Vendée gefragt«, sagte Malek. »Was war die Vendée? Ein Versuch, die menschliche Gewalt zu retten, ihre Strukturen und Hierarchien bis in alle Ewigkeit zu zementieren. Die Vendée – das war die Konterrevolution. Sie wurde von der göttlichen Gewalt in einem Strom von Blut hinweggespült. Ihr begabter Landsmann Lenin, den Sie leider nicht kennen, hat das genau begriffen. Schade, dass ernie die Zügel der Macht zu greifen bekam! War das Massaker in der Vendée grausam? Ja. War es barbarisch, über die Maßen grauenhaft, so schrecklich, dass die Sprache uns jedes Wort versagt? Gewiss. Es war außerdem göttlich. Sie entschuldigen mich einen Moment, mon ami. «
André Malek erhob sich und ließ Alexej von Repin allein zurück. Und mit einem Mal verstand Alexej, dem vom Zuhören ein wenig schwindelig war, mit wem er es hier zu tun hatte: wirklich mit einem Monster. Nicht seiner Thesen wegen (jedenfalls nicht nur seiner Thesen wegen), sondern vor allem wegen der Verve, mit der er diese wild-unmenschlichen Ansichten herausschleuderte. (Man hörte den Mann ja geradezu in Kursivbuchstaben sprechen!) Malek war ein Ungeheuer; ein Vampir war er, der sich an seiner, an Alexejs, Einsamkeit nährte. Und als ihm diese Einsicht unter der Schädeldecke aufleuchtete, da fand Alexej im Licht dieser plötzlichen Erkenntnis den Mut, das einzig Richtige und Kluge zu tun: Er griff also nach der zerknautschten speckigen Lederjacke, die Malek im Moment seines Eintretens nonchalant auf den Boden geworfen hatte, und nun wühlte er auf gut Glück in Maleks Taschen herum, bis ihm wirklich ein leinengebundenes Büchlein in die Hände fiel – Maleks Adressenliste.
Mit fliegenden Händen fetzte er das Büchlein auf, bis er auf den gesuchten Buchstaben stieß, und gewiss doch, hier war ihr Name, mit dunkler Tinte hingekritzelt: Gottlieb, Barbara, und gleich daneben ihre Nummer. Wie alle Nummern im I. Bezirk begann sie mit 212, Alexej prägte sich die Ziffern mit Nachdruck ein, er schloss die Augen, dann machte er sie auf und schloss sie wieder ganz fest zu, bis die Zahlenkombination ihm rot vor der Netzhaut tanzte: 6399675. Und während er diese mnemotechnische Übung vollführte, geschah etwas Wunderbares – inihm stürzte still, Pagodenturm um Pagodenturm, der Palast seiner Traurigkeit ein: er war nun nicht mehr der Hässliche, Schüchterne, der von zarter Frauenhand Unberührte, sondern ein Ritter mit einer Mission, der gewagt und gewonnen hatte, als er in jene Drachenhöhle im Souterrain eindrang. Als André Malek zurückkehrte (er war wohl dort gewesen, wo sogar ein mélech zu Fuß hingeht), hatte Alexej das Leinenbüchlein schon wieder in die zerknautschte Jacke zurückgesteckt. Und nichts – auch nicht die Hände, die der Fernsehphilosoph ihm jetzt begütigend auf beide Schultern legte – konnte ihn dazu verführen, auch nur eine Minute länger an diesem verfluchten Ort zu verweilen.
Er wählte die Nummer am nächsten Morgen, nachdem er wenig und außerdem schlecht geschlafen hatte. Selbstverständlich musste er zu diesem Zweck eine Telefonzelle mit dem kaiserlichen Emblem auf der Stirnseite aufsuchen, der Luxus eines eigenen Telefonanschlusses war Alexej nicht vergönnt; zwei Zwanzig-Heller-Münzen schob er in den Schlitz und hörte zu, wie sie in den Schacht fielen. Ihm schlotterten die Knie, unter seinen Achseln quoll der Schweiß hervor, aber nichts da: Er wählte. Und als er die Stimme hörte, nach der er sich so sehr gesehnt hatte, knallte er nicht hasenfüßig den Hörer wieder auf die Gabel, obwohl dies seine erste Regung gewesen war und er vor Aufregung schielte. »Gnädige Frau«, stammelte er. »Liebe Barbara. Ich m-m-möchte Sie gern wiedersehen.« Und so geschah, was wohl nie hatte vermieden
Weitere Kostenlose Bücher