Der Komet
2 durch dieOttakringer Straße glitten wie durch einen nachtdunklen Traum – Malek fläzte sich breitbeinig auf einen der Kunststoffsitze, während Alexej es vorzog zu stehen –, führte der Philosoph aus, dass er gewiss kein Radauantisemit sei, aber aus Gründen der Ideengeschichte nur jene Juden goutieren könne, die »ein bisschen messianischen Furor« bewiesen, und das seien nun einmal die wenigsten.
In der Blindengasse stiegen sie aus, und Alexej von Repin konnte die Frage in seinem Inneren kaum mehr niederkämpfen, ob er vielleicht einen Fehler begangen hatte, als er mitgegangen war; andererseits war er neugierig geworden, er hätte doch allzu gern gewusst, mit welchem Höllenargument André Malek jetzt das Grauen in der Vendée rechtfertigen würde. Sie hielten vor einem Hauseingang. Malek fischte einen altertümlichen Schlüssel aus der Hosentasche, ein Riesentrumm mit zwei Bärten, und sperrte auf; ein paar Treppenstufen hinunter, noch eine Tür, und sie waren angekommen. A. Malek stand auf dem Türschild – ohne akademischen Titel, was für Wiener Verhältnisse sehr ungewöhnlich war. Noch in der Elektrischen hatte der Philosoph ihm ausführlich die Herkunftsgeschichte seines Namens erklärt: Malek war in Algerien unter dem Joch der französischen Kolonialherrschaft geboren worden – sein Familienname stammte also aus dem Arabischen, wo er so viel wie »König« oder »Stammesfürst« bedeutete. Die Bezeichnung war dem hebräischen mélech verwandt. Man fand sie aber auch in dem Wort »Mamelucken« wieder – so nannten sich die muslimischen Kriegssklaven, die als Sultane das mittelalterliche Ägypten regierten. El-malik ist im heiligen Buch der Muslime einer der Namen Allahs: Im Kontext bedeutet er ungefähr »König der Könige«. Aber auch Moloch, der heidnische Götze, dem im Altertum kleine Kinder geopfert wurden, ist seinem linguistischen Ursprung nachzunächst einmal eben nur dies: ein malek, ein Führer, ein Potentat.
»Willkommen in der Höhle des Ungeheuers«, sagte der Philosoph. Es lag etwas in der Luft: ein seltsames Aroma aus schmutzigem Geschirr, altem Staub, Papierleim, Rosen, Tabakrauch, einer Spur von Ammoniak und dem Duft ungemachter Betten. Auf Regalen, Tischen, auch auf dem Fußboden lagen in Dutzenden schiefen Stapeln Bücher und Magazine herum – viele der Bücher lagen mit dem Rücken nach oben, sodass die Schwerkraft als Lesezeichen wirkte. Eine Stehlampe strahlte einen trüben gelben Kreis. André Malek schaufelte mit den Händen Drucksachen von zwei durchgesessenen Fauteuils und verschwand im Dunklen; man hörte Klirren, das saftige »Plopp« eines Korkens, leises Gluckern, dann kehrte der Philosoph mit einem Tablett, einer Flasche und zwei Gläsern zurück.
»Sie haben mich nach meiner Haltung zu den Ereignissen in der Vendée befragt«, begann der Philosoph nun, nachdem er à votre santé gewünscht und ein Glas Wein hinuntergestürzt hatte. »Dazu müssen wir erst einmal über Gewalt im Allgemeinen sprechen. Sagen Sie mir bitte: Was ist Gewalt? Wo fängt sie an, wo hört sie auf? Sehen Sie genau hin, mon ami: Alle gesellschaftlichen Beziehungen sind von Gewalt bestimmt. Wenn Sie an der roten Ampel nicht anhalten, kommt die Polizei, und Sie müssen Strafe zahlen. Wenn Sie die Strafe nicht zahlen, werden Sie ins Kittchen gesteckt. Gewalt! Wenn Sie Einkommen haben, verlangt der Staat, dass Sie ihm von Ihrem Reichtum abgeben; im Grunde werden Sie also genötigt, Sklavenarbeit für den Staat zu verrichten; wenn Sie sich weigern, winkt Ihnen das Zuchthaus. Gewalt! Wenn Sie Seine apostolische Majestät, unseren guten Kaiser, in der Öffentlichkeit mit unflätigen Ausdrücken bedenken, werden Sie vor denKadi gezerrt. Auch das ist Gewalt! D’accord? Nun möchte ich Ihnen aber zu bedenken geben, mein junger Freund, dass es zwei fundamental verschiedene und entgegengesetzte Arten von Gewalt gibt: die menschliche und die göttliche. Was verstehen wir darunter? Die menschliche Gewalt – damit ist das gemeint, was in Institutionen, Gesetzen, Polizeiverordnungen, Hierarchien, Strukturen geronnen ist. Die göttliche Gewalt hingegen ist alles, was sich gegen diese Strukturen erhebt. Göttlich: der Mob aus den Vorstädten, der sich in den I. Bezirk ergießt und dort anfängt, die Läden der Reichen zu plündern. Göttlich: die Völker, die sich erheben und das Joch der Fremdherrschaft abwerfen. Göttlich: die Guillotine, die den König köpft … Sie verstehen? Die alten Lateiner haben
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