Der Komet
gewiss keine Umarmung: Alexej und Barbara hatten einander nur zeremoniell die Hand gereicht, ehe sie zu ihrem vorbestellten Tisch geleitet wurden. Sie trug kein tief ausgeschnittenes Dirndlkleid, sondern ein dunkelblaues Kostüm und eine geradezu langweilig hochgeschlossene Bluse; er hatte sein einziges Jackett an (das mit den Saucenflecken), um seine Fußgelenke schlotterte eine Baumwollhose mit Bügelfalte. Aber so reserviert sie an jenem Abend im Hinblick auf das Körperliche gewesen waren, so offen hatten sie einander ihre Seelen entblößt. Die zwei Flaschen Rotwein, die sie gemeinsam leerten – ein wunderbarer Blauburgunder aus Transleithanien –, trugen gewiss dazu bei, dass der Abend sich immer mehr in Wohlgefallen (beiderseitiges) auflöste; doch am Ende war es nicht der Alkohol, der sie zusammenbrachte.
Barbara Gottlieb hatte ihm erzählt, wie es sich angefühlt hatte, als Tochter einer Berühmtheit aufzuwachsen. Denn Iris d’Acosta, die Neo-Suffragette, dieskandalöse Feministin, war ja ihre Mutter. (Heute lebte sie mit grauem Haar im wohlverdienten Revoluzzerruhestand und wurde zu den Trägerinnen des Sternkreuzordens gezählt.) Für Alexej handelte es sich hier um ein Kapitel aus dem Geschichtsbuch und keines von den längeren. Nur undeutlich wusste er über die Studentenrevolte von 1968 Bescheid: Im Grunde wusste er nur, dass die Frauen der Donaumonarchie (und im Deutschen Kaiserreich, hinterher auch in Russland und sogar im fernen Amerika) sich damals das Wahlrecht erkämpft hatten. Hatte es vorher denn überhaupt kein Frauenwahlrecht gegeben?
»Doch«, sagte Barbara und zählte am Daumen, Zeige-, Mittel- und Ringfinger ab, an welchen Orten auf der Welt es gegolten hatte: »In den britischen Kolonien Australien und Neuseeland, im finnischen Großfürstentum und im amerikanischen Bundesstaat Wyoming.«
»Wieso gerade diese vier?«
Keine Ahnung. Eigentlich wollte Barbara ihm ja auch etwas ganz anderes erzählen: »Für mich«, sagte sie, »ist die Revolte von 1968 ein Teil meines Lebens, meiner privaten Existenz.« Hier ergebe sich quasi eine mathematische Schnittmenge zwischen dem Geschichtsbuch und ihrem Familienalbum, auch wenn sie – zugegeben – im revolutionären annus mirabilis noch ein Kleinkind gewesen war; gerade einmal drei Jahre alt. Also bewahrte sie keine Erinnerung daran, wie ihre Mutter sich an den Toren der Hofburg festgekettet hatte (ein Foto, das durch die Welt gegangen war, nur die Neue Freie Presse hatte es selbstverständlich nicht gedruckt). Woran Barbara sich aber sehr wohl erinnerte, das war die k. u. k. Gendarmerie: ihre Uniformen, ihre gewienerten Stiefel in der guten Stube, die glänzenden Handschellen um die Gelenke von Mama.
Später waren es eher Fernsehleute im wilden Dutzend,die sich bei ihnen die Klinke in die Hand gaben. Und Judith Kahane, Schulamit Feuerstein, Bettina Fried, Emma Goldmann und Helene Esterhásy – gewiss doch, sie alle hatten im Hause d’Acosta zu den Dauergästen gehört.
»Es ist kein Zufall«, meinte Barbara, »dass gerade so viele Töchter Israels unter den Achtundsechzigerinnen waren.«
»Warum?«, fragte Alexej.
»Weil das Judentum eine Firma ist, in der die Chefs nur pro forma das Sagen haben, in Wirklichkeit wird das Geschäft aber von den Sekretärinnen regiert. Das war schon immer so, schauen Sie sich einmal die Bibel an, ich meine: unsere, die hebräische Bibel – am Ende bekommen doch immer die Weiber ihren Willen.« (Ja, damals redeten sie einander noch förmlich mit »Sie« an – unbehaglich-steif mit dem Vornamen gekoppelt: »Alexej, würden Sie mir wohl einen Schluck Wein nachschenken?«) Vielleicht sei es auch eine Revolte gegen ihre Mutter gewesen, meinte Barbara Gottlieb dann, dass sie als Erwachsene einen so traditionellen und bürgerlichen, beinahe braven Lebensstil gewählt habe. Nicht einmal gekifft habe sie als Studentin (Germanistik, im Nebenfach: Politik), obwohl Cannabis just zu ihrer Zeit legalisiert worden sei; das müsse man sich, bitte, einmal vorstellen! Ob sie sich als kleines Mädchen oft mies, zurückgesetzt, vernachlässigt gefühlt habe? »No na ned.« Das verstehe sich doch wohl von selbst. Jahre habe sie gebraucht, ehe sie ihrer berühmten Mutter halbwegs verzeihen konnte; zu ihrem lieben, aber schwachen Vater habe sie bis heute kein vernünftiges Verhältnis gefunden, c’est la vie.
Alexej war dermaßen fasziniert mit Zuhören beschäftigt, dass er kaum Zeit fand, sich umzuschauen. Nur aus den
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