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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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auch Empörung, diese Enthüllungen hier in Tiflis gesorgt haben? Wie das eben immer ist, wenn ein großer Mann entzaubert wird: »Lüge«, hieß es, »Verleumdung, üble Nachrede, Schändung eines Toten.« Auch ich dachte anfangs so. Vielmehr – und um die ganze Wahrheit zu gestehen: Gerade ich dachte am Anfang so. Jener Nachmittag an der Küste des Schwarzen Meeres gehört immer noch zu den prägenden Erlebnissen meiner Existenz. Beinahe unerträglich der Gedanke, dass ich ihn in Gesellschaft eines Mannes verbrachte, der ein so schwarzes Geheimnis in seiner Brustverbarg. Jener Dichter, der uns »Koba und das goldene Vlies« geschenkt hat, ist in seiner wilden Jugend ein Krimineller gewesen, wenn auch ein Verbrecher mit politischen Absichten, was die Sache freilich nicht besser macht. (Aus psychoanalytischer Sicht wird nun klar: »Koba« ist das Ich-Ideal eines Mannes, der tatsächlich schon allerhand geraubt hat – wenn auch nicht gerade das goldene Vlies. Und die sozialistische »Partei der Berufsrevolutionäre«? Sie ist das Idealbild einer Bande von Berufsverbrechern!) Just in dieser aufgeladenen Atmosphäre – die Diskussion tobte noch ganz unvermindert durch die Teesalons und Zeitungsspalten – suchte also erstmals D. meine Praxis auf. D. ist 54 Jahre alt, vierfacher Familienvater, Notar von Beruf; er hat bisher keine Beschwerden gezeigt, Gemütskrankheiten waren ihm fremd. Doch in jüngster Zeit plagen ihn Albträume: Die Parallelen zum Fall Ihres B., mein lieber Dr. Wohlleben, sind wirklich verblüffend.
    Auch D. glaubt also, Europa bzw. die Welt sei in einem Kataklysmus untergegangen: einer alles zerstörenden Katastrophe. Doch nun die entscheidende Abweichung, und diese Abweichung hat vielleicht mit der Familiengeschichte von D. zu tun. Denn D. ist direkt mit Soselo verwandt, es handelt sich um seinen Enkel. (Soselo war, um es genau zu sagen, der Vater seines Vaters.) D. träumt also, Soselo sei zum Herrscher avanciert – und nicht nur zum Herrscher von Grusinien, nein, gleich des ganzen Zarenreiches! Soselo also als imperialer Herrscher, ein wenig aber auch als Robespierre. Mein Patient D. träumt nämlich, Soselo habe Verbrechen begangen, die jenen der Jakobiner gleichen, sie aber weit in den Schatten stellen. So habe er Bewaffnete geschickt, die den Ruthenen all ihr Saatgut und ihr Vieh raubten, worauf Millionen von ihnen kläglich verhungerten. In einem Wäldchen hätten sich Häftlinge nebeneinander so hinsetzen müssen, dass ihre Schläfen einanderberührten; dann seien sie paarweise erschossen, ihre Leichen in Massengräber gesenkt worden. Soselo hat in den Träumen meines Patienten Abermillionen Russen, Polen, Balten, Juden, Deutsche, auch Grusinier nach Sibirien deportiert – dann pferchte er sie in unmenschliche Lager, und sie mussten hungrig, im ewigen Frost, mit ihren bloßen Händen nach Gold graben. Genug, genug der morbiden Fantastereien. Sie wissen, alte Leute sind geschwätzig (warum eigentlich? – gerade wir sollten uns doch peinlich des Umstandes bewusst sein, dass unsere Lebenszeit knapp bemessen ist). Schon viel zu lang ist dieser Brief mir geraten, und ich breche daher nun ab.
    Einen letzten Hinweis möchte ich mir aber erlauben, ehe ich mich (meine Enkelin mahnt) zum Mittagsschlaf auf mein Behandlungssofa zurückziehe. Ihre Theorie, in unerklärlichen Träumen wie denen Ihres B. (und vielleicht auch meines D.) drücke sich ein »Thanatos-Syndrom« aus – ein Todestrieb, der mit dem erotischen Trieb im ewigen Widerstreit steht – vermag wohl, ein wenig Licht auf die Sache zu werfen. Sie äußern sich in den »Schriften zur angewandten Seelenkunde« aber gar nicht über den familiären Hintergrund Ihres Patienten. Wäre es möglich, dass hier ein weiterer Schlüssel zum Verständnis des Ganzen verborgen liegt?
    Ich sehe den glitzernden Wolfgangsee vor mir, wie er sich am Fuß des Schafberges vor uns ausbreitete. Ich denke daran, wie Sie als junger Bursche mir mit einem Lächeln meine Last von den Schultern nahmen. Solche Gesten – sagte ich das schon? – bilden das Fundament der menschlichen Zivilisation. Und so verbleibe ich
    Mit guten Wünschen
    Ihr (unleserlicher Riesenkrakel)
    Gabriel Leviaschwili
    Dr. Wohlleben erinnerte sich naturgemäß an gar nichts. Gewiss, es hatte viele Ausflüge der psychoanalytischen Vereinigung ins Salzkammergut gegeben; an vielen davon hatte er im Lauf der Jahre selbst teilgenommen. Aber ein alter Arzt aus dem Kaukasus? Sein Gedächtnis

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