Der Komet
seinem Haus an der Schwarzmeerküste. Das Haus lag unweit eines Ortes namens Gagra. Die Details jenes Nachmittags stehen mir in lebhafter Erinnerung: Soselo trug sein Haar und seinen Bart lang, beides war längst schlohweiß; das Haar hatte er im Nacken zusammengebunden. Er trug einen hellen Kittel, darunter Pluderhosen, dazu Sandalen; es war feucht und warm. Er war sehr klein, beinahe ein Zwerg; er war charmant und lustig – wer sich in Gesellschaft von Soselo befand, der hoffte vollkommen vergeblich, die Aufmerksamkeit irgendeiner Frau auf sich zu lenken. Dabei hatte der Kerl Pockennarben! Er hatte außerdem die schönsten Augen, die ich bei einem Mann je gesehen habe: Sie waren – ich schwöre es – honigfarben. Wir unterhielten uns an jenem Nachmittag eigentlich nur über Literatur, vor allem über den großen Elisabethaner. »Shakespeare – die Begegnung einer Rose mit einer Axt«, sagte er mir. Und mit einem Zwinkern seiner Honigaugen fügte er hinzu: »Die Wahrheit liegt in Shakespeare. Ein philosophisches System könnte sie nicht fassen, ohne sofort zu zerplatzen.« Lange redeten wir über Macbeth, den Königsmörder, Tyrannen und Pantoffelhelden. Ich weiß noch, dass er Macbeth seinen Bruder nannte: »Aber was für ein poetisches Genie ist nötig, damit ich so jemanden als Bruder empfinde!« Soselo zitierte mir den berühmten Monolog, den Macbeth spricht, nachdem ihm die Nachricht überbracht wurde, Lady Macbeth sei tot: »Tomorrow and tomorrow and tomorrow / Creeps in this petty pace from day to day …« Und er zitierte mir ein paar Verse aus diesem Stück, die weniger bekannt sind, an die ich aber seither häufig denken muss:
Better be with the dead …
Than on the torture of the mind to lie
In restless ecstasy.
Später schauten Gäste, Nachbarn, Freunde vorbei: Soselos Frau und seine Kinder richteten eine »supra« an, wie sie bei uns in Grusinien üblich ist. Auf einer langen Tafel standen Teller, und auf den Tellern häuften sich Gerichte – wenn ich »Baridschani«, »Bastumi«, »Mzwadi« »Tschachochbili« hier hinsetze, wird dies in Ihrem Kopf keine Bilder entstehen, keine Gerüche aufsteigen lassen, aber Sie dürfen mir beruhigt glauben: Unsere »supra« war köstlich. Hühnerfleisch, Knoblauch, eingelegte Schweinefüße, ferner »Chatschapuri«, also mit Käse gefüllte Fladen, herrlich gewürztes Gemüse. Jeder nahm sich vom Büfett, was Herz und Magen begehrten. Ein paar Gläser Rotwein später fingen wir an, auf der Veranda im Chor zu singen. Wir sangen sein Lieblingslied: »Suliko«. Soselo hatte eine süße, kräftige Altmännerstimme, und sie trug weit über das Wasser hinaus …
Sie werden verstehen, was für ein Schock es für uns war, als jetzt das Buch eines englischen Literaturwissenschaftlers über die Jugend unseres Soselo erschien. Ein Robin Hood, ein Wilhelm Tell? Das war nun doch ein bisschen schmeichelhaft: Soselo hatte als junger Mensch Banken überfallen und Schiffe gekapert. Er hatte Ölbarone in Baku erpresst und Feuer gelegt. Er hatte im Gefängnis wirkliche und eingebildete Verräter hinrichten lassen. Er steckte sogar hintereinem Raubüberfall, der 1907, als er geschah, durch die Weltpresse ging: Zehn Bomben explodierten damals im Zentrum von Tiflis, mehr als 40 Unschuldige wurden getötet, 50 wurden verwundet. 341.000 Rubel erbeuteten die Räuber, die von unserem Soselo angeführt wurden. Dabei war er doch ein bildungshungriger Autodidakt und kein Barbar: Im Priesterseminar hatte er Victor Hugo, Schiller, Maupassant, Balzac, Thackeray, Gogol verschlungen; Tschechow konnte er auswendig. Aber nach dem Priesterseminar war er zum Kriminellen auf- bzw. abgestiegen. Wir erfuhren von jenem Engländer, dass Soselo von Kindesbeinen an mit einem gewissen Kamo befreundet war, einem armenischen Psychopathen, der ihn gelegentlich im Angesicht eines Opfers anflehte: »Lass mich ihm die Kehle durchschneiden!« Noch tiefer traf uns vielleicht der Schock, dass Soselo die ganze Zeit mit Lenin in Kontakt gestanden hatte, jenem fanatischen und scharfzüngigen Kleingeist, der ihn von Zürich aus zu immer neuen Mordtaten anstachelte; mit der Beute hatte Lenin die Umtriebe der »Bolschewiki« finanziert. Wir mussten uns erst einmal an den Gedanken gewöhnen, dass folgende Berufsbezeichnungen auf unseren Soselo zutrafen: Bankräuber, Erpresser, Pirat, Brandstifter, Terrorist – nicht nur, was wir vorher schon gewusst hatten: Poet.
Können Sie sich vorstellen, für welche Aufregung,
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