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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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meldete ihm nichts als weißes Rauschen, es zeigte ihm eine blanke Karte. Und er sollte jenem Herrn den Rucksack getragen haben? Ob der gute Mann ihn vielleicht mit jemandem verwechselte? Von dem großen grusinischen Dichter Soselo hatte er allerdings schon einmal gehört (er war schließlich kein Banause). Dass jener Poet als junger Mann einmal kriminell gewesen und einer Sekte von politischen Fanatikern zugearbeitet hatte, fand er allerdings nicht weiter bedeutsam (»die Tatsache, dass jemand Schecks fälscht, beweist noch nichts gegen sein Geigenspiel« – hatte nicht Oscar Wilde das gesagt?). Und was sollte Dr. Leviaschwilis zwiefacher Hinweis auf das Fundament der Zivilisation? Wohlleben war ein praktischer Mensch: Seiner wohlerwogenen Ansicht nach beruhten menschliche Gesittung und Kultur auf solch banalen Dingen wie Wasserspülung, Stromversorgung, Müllabfuhr – nicht auf gut gemeinten Gesten.
    Ohne Zweifel: Es war interessant, womöglich sogar aufschlussreich, dass offenbar noch ein zweiter Mensch auf dieser Welt am Thanatos-Syndrom litt. Aber der Hinweis auf den familiären Hintergrund von August Biehlolawek, mit dem der alte Doktor aus Grusinien seinen Brief beschloss, half Wohlleben keinen Zentimeter weiter. Bei der Anamnese hatte er seinen Patienten ausführlich über dessen Familie befragt, das gehörte zum Handwerk des Psychoanalytikers. Interessantes war dabei nicht zutage gefördert worden. Unter den Verwandten des August Biehlolawek befanden sich weder Nationaldichter noch Bankräuber; auch keine anderen verhinderten Helden.Bei dem einzigen Urahn, der es zu einigem Nachruhm gebracht hatte, handelte es sich um einen antisemitischen Stadtrat, der kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert im Wiener Rathaus gesessen hatte. Von ihm war folgender bemerkenswerte Satz überliefert: »Kultur ist, was ein Jude beim anderen abschreibt.« (Im Original hatte das selbstverständlich eindrucksvoller geklungen: »Guidua is, waus a Jud’ bäm aundan obschrääbd.«) Biehlolaweks Großvater väterlicherseits war Prokurist in einer Wäschefirma gewesen; sein Großvater mütterlicherseits, ein gewisser Hüttler, ein Maler von Ansichtspostkarten, hatte seine letzten Jahre im Delirium tremens verbracht. Seine Mutter wie seine beiden Großmütter hatten als Hausfrauen ihre Existenz gefristet: nichts Aufregendes also, nur glatte, graue Gewöhnlichkeit.
    Übrigens fing sein Patient an, Dr. Wohlleben gehörig auf die Nerven zu gehen – die letzte Sitzung hatte eigentlich in einem Eklat geendet.
    Ein weiteres aberwitziges Detail: Biehlolawek hatte geträumt, dass 196 Waisenkinder aus der Mitte von Warschau am helllichten Tag weggeführt wurden, um irgend anderswo einen grauenhaften Tod zu erleiden. Biehlolawek träumte, dass jene 196 Kinder – jüdische Kinder – von deutschen und österreichischen Soldaten umzingelt waren; er träumte, dass jedes Kind ein Spielzeug dabeihatte, ein Stofftier, eine Puppe, ein Lieblingsbuch; alle hätten ihre besten Kleider getragen, wie zu einem Feiertag. Ein zwölfjähriger Violinist sei vorneweg geschritten, er habe eine lustige Melodie gespielt, und die anderen Kinder hätten im Chor mitgesungen. »Und in ihrer Mitte«, sagte August Biehlolawek, »ist Henryk Goldszmit gegangen, zwei kleine Kinder hat er auf dem Arm gehalten.« Ein Deutscher habe ihm angeboten, sich zu verdrücken, sein Leben zu retten, aber Goldszmit habe nur den Kopfgeschüttelt und sei bei seinen 196 Waisenkindern geblieben – bis ganz zuletzt, bis zum Schluss, bis über den Schluss hinaus. (Bekanntlich war Henryk Goldszmit in Wahrheit steinalt geworden.
Hinweis
Bekanntlich hatte er die Berufung zum Minister für Erziehung und Kultur in Ost-Galizien mit einem Achselzucken abgelehnt, war vom Kaiser später aber zum Geheimrat für pädagogische Fragen ernannt worden. Bekanntlich hatten seine Bücher, in denen er die manchmal schwierige Kunst lehrte, Kinder zu lieben, Millionenauflagen erreicht. Bekanntlich verdankte sich vor allem seinem Einfluss, dass es in der gesamten Monarchie seit den Vierzigerjahren unter Strafe stand, Kinder zu schlagen.) »Wir fahren aufs Land«, habe Henryk Goldszmit seinen umzingelten jüdischen Waisen in Warschau erzählt, eine barmherzige Lüge. »Er hat ihnen das Sterben leichter machen wollen«, sagte August Biehlolawek, und dann brach er auf dem Sofa liegend zusammen.
    Oft wird es als Floskel dahingesagt: dass jemand Rotz und Wasser heult. Aber dem weißhaarigen, stämmigen Mann lief ja

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