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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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wirklich der salzige Schleim aus den dunklen Nasenlöchern über die Lippen, und aus seinen Augen brachen Sturzbäche hervor, es war insgesamt kein schöner Anblick.
    »Warum«, schluchzte der Diplom-Ingenieur. »Warum denn, warum?« Und dann – nachdem Dr. Wohlleben ihm wortlos ein Taschentuch gereicht hatte – fing August Biehlolawek an zu singen: »Oh, du lieber Augustin, alles ist hin.« Nichts als diese eine Zeile: »Oh, du lieber Augustin, alles ist hin.« Und kräftiger sang er: »Oh, du lieber Augustin, alles ist hin.« Und noch ein wenig lauter: »Oh, du lieber Augustin, alles ist hin.« Endlich fing der Diplom-Ingenieur an, mit Stentorstimme zu brüllen. Es war, als hätten diese Schreie seit seiner Kindheit tief in seinem Inneren darauf gewartet, dass sie sich einen Wegins Freie bahnen durften: Biehlolawek brüllte, er brüllte und schluchzte und brüllte, bis Dr. Anton Wohlleben ihm, schon um seine Reputation zu retten (man hörte diese Schreie bestimmt bis auf die Straße draußen, die friedlich im Frühmorgendunst dalag), eine Morphiumspritze verabreichte. Das wohltuende Gift ließ Biehlolawek still werden und einschlafen, aber das Morphium berührte nicht das schwarze Zentrum seiner Seele, in dem er stumm weiter vor sich hin schrie.

X.
Schwimmunterricht
    Dies ist die Predigt, die Prof. Dr. Adolf Brandeis, Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde zu Wien, am Vorabend des jüdischen Versöhnungsfestes, also am Sonntag, dem 8. Oktober, im Pazmanitentempel in der Leopoldstadt
Hinweis
hielt, die gewöhnlich als Wiens schönste Synagoge angesehen wird:
    »Liebe Mitbeterinnen und Mitbeter! Wir haben soeben das Kol Nidre gehört, mit dem Oberkantor Naftali Rosenblatt diesen Hohen Feiertag eingeleitet hat. Mir scheint, so wunderbar wie heute Abend hat unser Oberkantor überhaupt noch nie gesungen – er hat mit seiner Stimme nicht nur unsere Herzen berührt, er hat auch die Pforten des Himmels weit aufgerissen, damit unsere Gebete dort oben Eingang finden. Sie wissen ja: Seinem Wortlaut nach ist das Kol Nidre eine trockene juristische Formel in aramäischer Sprache, die nichts weiter besagt, als dass alle Versprechen, die wir Gott aus Leichtsinn gegeben haben, hiermit als hinfällig anzusehen sind. Das Drama liegt nicht in diesem trockenen Text, es liegt in der wild zerklüfteten Melodie – sie erzählt von sämtlichen Debakeln unserer an Katastrophen überreichen Geschichte: von der Vertreibung aus Spanien im Jahre 1492 bis zu den Pogromen in Russland, die glücklicherweise längst trübe Vergangenheit sind. Kein Israelit, der das Kol Nidre je gehört hat, ist davon in seinem Innersten ganz unberührt geblieben – nicht einmal ein Israelit, der trejfe Speisen genießt und seine Herkunft trotzig verleugnet. Aber in diesem Jahr, dem Jahr 5761 nach Erschaffung der Welt, dringt die Melodie des Kol Nidre ganz besonders eindringlich an unserOhr. Denn es könnte gut sein, dass wir nach diesem Jahr kein anderes mehr erleben werden.
    Es ist normal, es gehört sich beinahe so, dass die Bethäuser am Jom Kippur, dem Versöhnungstag, übervoll sind: dass Juden aller Schichten und Altersklassen, die sonst nie beten gehen, den Weg zu uns finden, um hier in unserer Mitte zu dawenen. Aber so überfüllt wie heute war es hier im Pazmanitentempel noch nie. Der Grund für diesen Andrang liegt auf der Hand. Jeder von uns hat die schlimme Botschaft gehört, die Seine Majestät uns vor fünf Tagen im Fernsehen überbracht hat. Und vielen musste der Zeitpunkt bedeutsam erscheinen: Wir wurden über das, was uns droht, ausgerechnet während der Jamim Noraim informiert. All jenen unter Ihnen, die sich in der Tradition nicht so gut auskennen, erkläre ich: Das sind die zehn Tage der Ehrfurcht und inneren Einkehr, die zwischen dem Neujahrsfest Rosch Haschune und dem Versöhnungstag liegen. Unserer Tradition nach fällt Gott zu Rosch Haschune sein Urteil nur über zwei Gruppen von Menschen – die ganz Gerechten und die ganz Ungerechten. Diese werden ins Buch des Lebens, jene ins Buch des Todes eingeschrieben. Die meisten von uns gehören aber keiner dieser Kategorien an; die meisten von uns sind weder abgefeimte Bösewichter noch heilige Zaddikim, sondern irgendwo dazwischen. Und das heißt: Wir können in den zehn Tagen der Ehrfurcht vor Jom Kippur durch Gebete, durch Reue, durch Versöhnung mit unseren Mitmenschen und durch Taten der Barmherzigkeit dafür sorgen, dass unser Urteil dort oben im Himmel nicht allzu harsch

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