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Der Komet

Der Komet

Titel: Der Komet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannes Stein
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besseren Zukunft zu tun, auch nichts mit dem Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod: Es handelte sich einfach um die Hoffnung auf eine milde Auslöschung. Von diesem philosophischen Beispiel inspiriert, haben sich später Dutzende von Stoikern die Pulsadern geöffnet und sind lächelnd im warmen Wasser verblutet.
    Erst mit uns, erst mit den Juden, hat Hoffnung aufgehört, ein leeres Wort zu sein, das in die Irre oder den Tod führt. Die zionistische Hymne trägt darum just diesen Titel: die Hoffnung, ha-tikwa. Viele von ihnen könnten die »Hatikwa« im Chor mitsingen, aber ist Ihnen bewusst, dass sich verborgen in diesem Lied die Anspielung auf eine Bibelstelle findet? Beim Propheten Ezechiel lesen wir die grandiose Vision von den verdorrten Beinen in dem Tal, die durch ein Gotteswort wieder zum Leben erweckt werden: Sie überziehen sich mit Sehnen und Fleisch, der Geist fährt in ihre Glieder, das Haus Israel steht aus seinen Gräbern auf und kehrt heim nach Zion. In der Bibel aber sprechen die Wiedererweckten im ersten Schreck: »Vergangen sind unsere Gebeine und geschwunden ist unsere Hoffnung …« (Ezechiel 37,11), im Original steht: awda tikwatäinu. Und die Antwort der zionistischen Hymne, ein paar Tausend Jahre später? Sie lautet: od lo awda tikwatäinu – »wir haben unsere Hoffnungnoch nicht aufgegeben«. Wir werden heimkehren. Wir werden leben.
    Liebe Mitbeterinnen und Mitbeter, ich möchte Ihnen hier und heute, am Vorabend des Jom Kippur, einen vielleicht neuen Gedanken nahelegen: die Hoffnung als Virtus, als staatsbürgerliche Tugend, oder wie wir auf Hebräisch sagen: als Mizwe. Der mittelalterliche Philosoph Joseph Albo hat in seinem Sefer ha-Ikkarim darüber geschrieben. Er hat diesen Traktat nach schweren Verfolgungen und Zwangstaufen in Spanien verfasst; er hat klarmachen wollen, woran ein Jude glauben muss. Nach Joseph Albo sind das nur drei Prinzipien: die Existenz Gottes, die Offenbarung der Thora am Berg Sinai und die göttliche Belohnung sowie Strafe. Alles andere (zum Beispiel der Messiasglauben) ist nach Albo zweitrangig! Ob man aber an Gott glaubt oder nicht – das zeigt sich für Joseph Albo überhaupt erst dann, wenn man in einem Schlamassel steckt. Gottvertrauen ist leicht an einem idyllischen Sommertag: Schwieriger wird es schon, wenn man sein Vermögen oder einen nahen Verwandten verloren hat.
    Außerdem führt Joseph Albo eine wichtige Unterscheidung ein. Da gibt es also einerseits die Hoffnung des einzelnen Israeliten, die wirklich nichts weiter ist als – eine Hoffnung; das heißt, sie kann furchtbar enttäuscht werden. Auf der anderen Seite gibt es dann aber die Hoffnung des gesamten jüdischen Volkes. Und diese Hoffnung ist eigentlich schon keine Hoffnung mehr, sie ist eine Zuversicht.
    Wir stehen heute in weißen Sterbegewändern vor Gott. So haben wir schon einmal gestanden: am Fuß des Berges Sinai, Sie erinnern sich vielleicht. Mosche Rabbäinu – Mose, unser Lehrer – hatte den Berg bestiegen, um mit Gott zu sprechen, der ihm die Zehn Gebote gab. Wir aber haben uns unterdessen ein goldenes Kalb geschaffen, um ihmmit einer heidnischen Orgie zu huldigen. Das Goldene Kalb wird heute meistens als Symbol für den Reichtum aufgefasst: Das Goldene Kalb anbeten heißt deshalb im landläufigen Sprachgebrauch, dass man nur materielle Werte im Sinn hat. Aber sehen Sie, das kann nicht stimmen. Denn in der Thora steht geschrieben, dass die Frauen und die jungen Männer ihre goldenen Ohrringe abnahmen und sie Aharon gaben, dem ersten Hohepriester: Das heißt, die Kinder Israel haben damals auf ihren Reichtum verzichtet, damit das Götzenbild geschmolzen werden konnte. In wirtschaftlicher Hinsicht, das müssen Sie zugeben, ein Akt der puren Selbstlosigkeit!
    Wofür steht dann also das Goldene Kalb? Liebe Mitbeterinnen und Mitbeter, ich lade Sie ein, dieses Götzenbild als gleißendes Symbol der Verzweiflung zu betrachten. Der Tanz um das Goldene Kalb war eine Orgie der Hoffnungslosigkeit. Unsere Vorväter in der Wüste hatten ihren Mut und ihr Gottvertrauen verloren, weil Mosche Rabbäinu so lange nichts von sich hören ließ; sie glaubten, Gott habe sie im Stich gelassen. Aber der Ewige hat diesen gewaltigen Fehltritt bekanntlich verziehen. Er hat uns nicht verworfen, er hat kein anderes Volk an unserer Stelle erwählt. Damals nicht und heute nicht. Schon um Seiner eigenen Ehre werden wird Gott das Haus Israel nicht zuschanden werden lassen. Der Ewige hat Awrohom Awinu, Jizchok

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