Der Kopfjäger: Der 1. SPECIAL X Thriller
geben. Er kam sich vor wie ein Narr, wie er so anonym in der Menge saß und sich Hals über Kopf in diese Frau verliebte. Was für ein wildes, verrücktes Gefühl.
Sei nicht zu streng zu dir, war der Gedanke, der ihm durch den Kopf ging. Schlag einmal alle Vorsicht in den Wind – geh hinter die Bühne, sprich sie an. Was hast du schon zu verlieren? Wenn sie dich abweist, wirst du das überleben. Aber wenn du es nicht versuchst … mein Gott, was für eine Schauspielerin.
Die Sicherheitswache hatte ihn an der Tür aufgehalten. »Wo glauben Sie wohl, wo Sie da hingehen, mein Freund?«, hatte der vierschrötige Mann ihn gefragt.
»Ich hatte gehofft, hinter die Bühne zu kommen. Ist das nicht der richtige Weg?«
»Haben Sie einen Bühnenausweis?«
»Nein.«
»Dann haben Sie hier nichts zu suchen.«
DeClercq hatte nur einen Augenblick lang gezögert. Dann hatte er in die Tasche gegriffen und seine Regimentsplakette aufblitzen lassen. »Reicht das als Passierschein?« Und dann hatte er sich vorgebeugt und geflüstert: »Wir wollen doch keine Szene machen.«
Der Mann hatte ihn durchgelassen.
Nun, was ist schon ein kleiner Betrug im Namen der Liebe?, sinnierte er. Er hatte ganz sicherlich hinter der Bühne nichts zu suchen – an jenem Abend hatten sich zweifellos 99 Prozent aller Männer im Zuschauerraum in sie verliebt – und seine Dienstplakette war in den USA ohne jede Autorität. Und doch ging er jetzt durch die Korridore, suchte die Garderoben, hatte Sorge, seine verliebte Täuschung würde jeden Augenblick auffliegen, und sein Herz schlug wie wild, während ihm der Schweiß aus den Achselhöhlen rann. Und dann fragte er jemanden nach dem Weg und klopfte, ehe ihm das richtig bewusst wurde, an der Tür. Plötzlich war ihm in den Sinn gekommen, dass er sich gar nicht überlegt hatte, was er zu ihr sagen würde. »Sie betreten den Raum auf eigenes Risiko«, rief eine Stimme von hinter der Tür. »Ich warne Sie, ich bin nicht angezogen.«
Und da saß er jetzt an seinem Schreibtisch, beinahe 25 Jahre später, und stellte sich wieder eine nicht angezogene Frau vor.
Muster, dachte DeClercq. Und dann: Janie, wie ich dich vermisse.
Wieder und wieder hatte der Superintendent sich in jenen frühen Tagen seiner zweiten Ehe eingeredet, es sei falsch und ungesund, so viel Zeit in der Vergangenheit zu verbringen. Dinge geschehen. So ist das Leben. Oder das Schicksal. Oder weiß Gott, was sonst. Die Lebenden leben weiter. Natürlich waren es gute Zeiten gewesen, aber jener Teil seines Lebens war vorbei. Außerdem, denke an sie.
Du bist ein glücklicher Mann, Robert DeClercq, und du verhältst dich wie ein Narr. Nur wenige Männer haben das Glück, einmal in ihrem Leben die wahre Liebe zu finden. Und du hast sie zweimal gefunden. Kriegst du es nicht in deinen Schädel, dass jeder andere Mann in deiner Lage jetzt Gott auf den Knien dafür danken würde, wenn Genevieve in sein Leben getreten wäre? Wo wärest du jetzt, wenn sie nicht die Trümmer deines Lebens aufgehoben hätte?
Aber dann dachte er wieder an Jane und jenes zahnlose Babylächeln.
DeClercq hatte Kate nie so glücklich gesehen wie an dem Tag, an dem ihre Tochter geboren wurde. In Wahrheit war er selbst nie so glücklich gewesen. Er war gerade bei der RCMP zum Sergeant befördert worden und hatte in dem Krankenhauszimmer in Montreal gestanden und zugesehen, wie seine Frau, verschwitzt und mit verklebtem Haar, liebevoll den neugeborenen Säugling in den Armen hielt. Der Anblick dieser verschrumpelten, faltigen Pflaume hatte ihn überwältigt. Aber was für Augen diese Pflaume hatte.
Viele Jahre später, in einer kalten, verschneiten Nacht im Dezember, als er vor der Glut eines schnell verlöschenden Feuers saß und der Wind an der Küste von West Vancouver entlangheulte, hatte er dieses Bild wieder vor seinem inneren Auge gesehen. Genevieve hatte ihn am Arm angetippt und sich neben ihm niedergekauert um sich zu ihm zu setzen. »Du wirkst besorgt, Robert. Sag mir, was los ist.«
»Ich denke bloß«, hatte er gesagt.
»An Kate und Jane, vermute ich.«
Er hatte im Feuer herumgestochert.
»Es war nicht deine Schuld, Robert. Ich wünschte, du würdest dich daran erinnern. Ich wünschte, ich wüsste, wie ich deinen Schmerz mildern könnte.«
DeClercq hatte sie mit Trauer in den Augen angesehen.
»Das tust du doch, Genny. Wirklich. Jede Minute. Jeden Tag. Ich weiß wirklich nicht, wo ich ohne dich wäre. Ich liebe dich und ich brauche dich. Aber diese Schuld
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