Der Kopfjäger: Der 1. SPECIAL X Thriller
du es uns nicht sagst«, meinte Schnurrbart, »was können wir da schon machen?« Er zuckte die Achseln mit nach oben gekehrten Handflächen, so wie es die Franzosen machen.
Aber sie tat nichts. Sagte nichts. Und die Rauschgiftbullen hielten ihr Versprechen. Erst um halb fünf Uhr früh gaben sie ihr eine Vorladung und ließen sie gehen.
Johnnie! Ich muss Johnnie finden!, dachte sie. Bitte, Johnnie, besorg mir Stoff!
Zuerst war sie zu dem Zimmer gegangen, das sie sich in dem von Ratten verseuchten Hotel teilten. Eine Tafel vor der Tür versprach: Fließend Warm- und Kaltwasser in jedem Zimmer. Vernünftige Preise. Aber Johnnie war nicht da. Und ihr ganzer Stoff war weg.
Als sie aus dem Ausgang auf die Straße trat, lag dort ein Betrunkener hingestreckt in der Tür. Er hatte ein blasses, schmales Gesicht und lange, gelbe Zähne und sah aus wie eine Ratte. Der Mann blickte sie mit ausdruckslosem kaltem Lächeln an und nahm dann einen tiefen Schluck aus einer Flasche Aqua-Velva-Rasierlotion. Hinter ihm konnte man auf dem Boden eine Pfütze aus Pisse und Regen erkennen.
Angewidert quetschte die Frau sich an die Ziegelwand. »Gib ma’n Kuss«, nuschelte der Betrunkene, während sie auf den Gehsteig hinausstolperte. Dann wandte sich die Frau in Richtung Carrall Street und Chinatown. Das Gefühl, das die Ziegelsteine auf ihrer Handfläche hinterlassen hatten, erinnerte sie an die Mauer.
Jetzt schaltete die Ampel an der leeren Kreuzung der Pender und der Main Street auf Rot und tauchte den Nebel so intensiv in Farbe, dass man hätte meinen können, ein blutiger Regen ginge auf die Stadt nieder. Die Frau sah die Pender Street hinab, in die Richtung, aus der sie gekommen war.
Chinatown war um vier Uhr morgens wie ein anderes Jahrhundert. Weil um diese Zeit das Rätselhafte und das Unergründliche, das der Westen am Osten wahrnimmt, beinahe greifbar ist. Die Frau konnte eine Reihe von Gebäuden sehen, die sich im Regen vor ihr erstreckten – Häuser mit so reich verzierten Fassaden wie chinesische Theatermasken. Fenster blickten wie die Augen von Toten auf die Straße. In einem dieser Gebäude hatte Sun Yat-Sen einen Teil seines Exils verbracht. In anderen hatten sich Geheimgesellschaften in einer Atmosphäre getroffen, die so mit Geheimnissen angefüllt war wie der Rauch, der aus ihren Opiumfabriken emporstieg. Und zur gleichen Zeit hatten sich unter der Straße – wo sie jetzt stand – legendenumwobene Tunnels aus irgendeinem vergessenen Grund von irgendwo nach irgendwo geschlängelt.
Diese Frau wusste von alldem natürlich nichts – denn sie war neu in dieser Stadt. Sie hatte insgesamt gerade mal vier Tage in ihr gelebt.
Nachdem sie sich langsam aufgerappelt hatte, taumelte sie auf das Hotel zu.
Die »Mauer« befand sich dicht neben dem Moonlight Arms, dem Pub des Moonrise-Hotels. Sie war aus alten Ziegelsteinen erbaut und mit roten und weißen Streifen bemalt wie ein Barbierladen in einem Pennerviertel. Die weißen Streifen waren zu einer Nachrichtentafel für Nutten geworden. Hier pflegten die Prostituierten, die in Downtown Eastside arbeiteten, ihre Schwestern der Nacht vor gewissen perversen Freiern zu warnen. Es waren Nachrichten wie: Hellblauer Pontiac: Ein Messerstecher oder Vorsicht (Schläger!) und dahinter eine Zulassungsnummer aus British Columbia. Gelegentlich benutzten Zuhälter die »Mauer«, um mit ihrem Stall Kontakt aufzunehmen. Zuhälter wie Johnnie.
Während in ihr langsam Panik aufstieg, suchte die Frau verzweifelt nach Johnnies charakteristischem Gekritzel.
Oh Gott, nein, er hat keine Nachricht hinterlassen!
Das Fahrzeug, das um die Ecke kam, bemerkte sie nicht.
Der Wagen schlich von der Main Street heran, seine Reifen zischten auf dem regennassen Asphalt, sein Nummernschild war mit Schlamm bedeckt. Drei Meter von der Frau entfernt hielt er am Bordstein. Das Beifahrerfenster war offen. Der Motor grummelte im Leerlauf.
Die Frau hörte das Summen des Motors und drehte sich langsam um. Dann stolperte sie ans Fenster.
»Wie wär’s mit uns beiden?«, krächzte sie.
Instinktiv beugte sie sich etwas herunter, um den Fahrer sehen zu können, denn ihr Gewerbe war ein gefährliches Geschäft. Erst gestern Nachmittag hatte sie gehört, dass eine Kollegin von einem Freier umgebracht worden war. Der Typ hatte sie mit einem Nylonstrumpf erwürgt.
Obwohl das Gesicht des Fahrers sich im Schatten befand, konnte sie seine Augen erkennen.
»Vergiss es«, sagte sie scharf und begann sich
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