Der Kopfjäger: Der 1. SPECIAL X Thriller
›verrückt‹ bezeichnet. Die bestimmende Eigenschaft oder das Symptom der Psychose besteht darin, dass der Kontakt zur Realität verloren gegangen ist; mit anderen Worten, der Psychotiker hat unter dem Druck seiner Krankheit einen wichtigen Aspekt der realen Alltagswelt durch etwas ersetzt, das sein gestörtes Bewusstsein geschaffen hat. Ich will ein paar Beispiele nennen. Bei dem kürzlich stattgefundenen Verfahren gegen den Yorkshire Ripper war es von Bedeutung, ob Peter Sutcliffe, als er in einem Grab stand, das er als Arbeiter des Friedhofs aushob, wirklich eine Stimme gehört hat, die er so interpretierte, dass Gott ihn damit beauftragt habe, die Welt von Prostituierten zu befreien. David Berkowitz – der ›Son of Sam‹ aus New York – unterhielt sich scheinbar mit dem sprechenden Hund seines Nachbarn, ehe er sechs Menschen mit einer Pistole Kaliber 44 tötete.
Die Neurosen – das ist der zweite Hauptsektor der Geisteskrankheit – sind etwas anders, und für den vorliegenden Fall vermutlich irrelevant.
Aus unserer Sicht von größerer Wichtigkeit ist die dritte Hauptgruppe von Geistesgestörtheit – nämlich Charakterstörung. In diesem Bereich finden wir nämlich den Psychopathen oder Soziopathen jeweils mit Fallgeschichten von unglaublichem Schrecken.
Bei der Charakterstörung liegt nämlich im Gegensatz zu einem Bruch mit der Realität eher etwas vor, was ich als einen Kompromiss mit der Realität bezeichnen möchte. Bei von dieser Krankheit befallenen Personen entwickeln sich im Laufe ihres Lebens nämlich nicht etwa Symptome wie Halluzinationen oder Obsessionen, sondern es vollzieht sich vielmehr eine Veränderung ihrer Charakterstruktur, die systematisch ihren Umgang mit der Realität verändert.
Dies führt häufig zur Unfähigkeit, einen normalen Sinn für Moral zu entwickeln, der Unfähigkeit, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Die betroffene Person ist noch in Beziehung mit der Realität, handelt aber häufig ohne jede Rücksicht auf die Gefühle anderer. Sadisten fallen häufig in diese Kategorie – und deshalb hat Betteln, Anflehen und dergleichen keinerlei Wirkung auf sie.«
»Würden Sie sich etwas ausführlicher über Psychopathie äußern?«, bat Robert DeClercq.
»Aber sicher«, nickte Ruryk. »Das ist nämlich der Bereich, in dem wir die große Mehrheit von Massenmördern finden.
Man kann Psychopathen in zwei wichtige Unterkategorien gliedern.
Die eine ist der unterkontrollierte aggressive Psychopath. Das ist der Typus von Individuum, dem die in der Gesellschaft notwendigen Begrenzungen seines Verhaltens einfach fehlen. Derartige Personen begehen häufig aggressive Taten und sind der Polizei auch wegen einer Anzahl vorangegangener Gewalttaten gut bekannt. Clifford Olson würde ich in diese Kategorie einreihen.
Die zweite Unterkategorie ist wesentlich gefährlicher und schwerer zu fassen – der überkontrollierte aggressive Psychopath. Dieser Typus Mensch verfügt über zahlreiche Begrenzungen, die sein Verhalten regulieren. Der aggressive Psychopath ist häufig ein ziemlich gründliches, starres, obsessives Individuum. In Stresszeiten ist dieser Mensch aber nicht fähig, die tief in seiner Persönlichkeit vergrabenen aggressiven Triebe zu kontrollieren, und deshalb kann es dann zu gewalttätigem Verhalten kommen. Es ist dann, als wäre ein Sicherheitsventil geplatzt oder plötzlich ein Vulkan ausgebrochen. Sobald der Druck sich gelöst hat, kehrt dieser Typus Psychopath sofort in sein normales Selbst zurück.
Sie können sich vorstellen, weshalb dieser Typ von Killer extrem schwer ausfindig zu machen ist, denn die Faktoren, die solche Ausbrüche auslösen, variieren bei jedem Individuum: Was den einen aufregt, wird einen anderen nicht stören. Bundy gehört meiner Ansicht nach in diese Kategorie.
Aber der wichtigste Punkt ist folgender: Sowohl der zutiefst unterdrückte Psychotiker wie auch der überkontrollierte aggressive Psychopath kann möglicherweise äußerlich, also in der Art und Weise, wie er seinem täglichen Leben nachgeht, völlig normal erscheinen.
Die Suche nach diesen beiden Persönlichkeitstypen ist so schwierig wie die Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen.«
Einen Augenblick lang trat eine Pause ein, dann meinte DeClercq: »Dr. Ruryk, in der Lektüre, die Sie mir zur Verfügung gestellt haben, wird auch der ›Hochstapler‹ erwähnt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie in diesem Zusammenhang näher auf diesen Begriff eingehen
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