Der Kranich (German Edition)
Gruppe hatte sich wie gewöhnlich an einem runden Tisch im hinteren Bereich des Raumes versammelt. An diesem Abend waren allerdings nur drei Teilnehmer anwesend. Beim letzten Mal waren es deutlich mehr gewesen, doch einige kamen unregelmäßig oder nur sporadisch wie Elvert. Matthias saß mit dem Rücken zur Tür, seine blonde Lockenmähne war nicht zu übersehen. Er hatte sich auf Verhaltens- und Körpertherapie spezialisiert, und in diesem Bereich machte ihm keiner etwas vor. Ihm gegenüber saß, ein Rotweinglas in der Hand, Christine Seifert. Sie war Analytikerin und überzeugte Freudianerin, und viele Männer hätten sie sicherlich als sehr attraktive Frau bezeichnet, doch Elverts Typ war sie nicht. Seiner Meinung nach war sie zu stark geschminkt und etwas zu geschwätzig. Von ihrer festgesprühten Föhnfrisur ganz zu schweigen. Helmut Fechter erspähte ihn als Erster. Er praktizierte Gestalttherapie und Transaktionsanalyse in der Klinik auf der Schillerhöhe, und er war derjenige, den Elvert am wenigsten kannte, der ihn aber fachlich am meisten interessierte. Nicht zuletzt deshalb, weil Fechter einen Großteil seiner schwer lungenkranken Klienten durch deren letzte Monate begleitete.
Ein breites Grinsen erschien auf Helmut Fechters Gesicht, während er den leeren Stuhl neben sich zurückzog. „Gustav! Schön, dass du mal wieder vorbeikommst! Setz dich!“
Er meinte es ehrlich. Elvert entledigte sich seines Mantels, nahm Platz und blickte in Matthias’ erstauntes Gesicht.
„Warum hast du nicht angerufen?“
„Hab ich, aber du warst schon weg. Es war ein … spontaner Entschluss.“
Christine Seifert stellte ihr leeres Glas auf den Tisch zurück und nickte ihm ebenfalls zu. „Guten Abend, Gustav.“
Die Kellnerin kam, Elvert bestellte einen schwäbischen Wurstsalat und ein Bier, und schon bald war eine muntere Diskussion über die neuesten Fachpublikationen im Gange. Elvert aß und trank weitgehend schweigend, gab nur ab und zu einen Kommentar von sich. Die Themen interessierten ihn nur mäßig. Immerhin fühlte er sich nach dem zweiten Bier leidlich entspannt und genoss die lauter werdende Kneipenatmosphäre.
„Dass wir in der Presse angegriffen werden, ist nun wirklich nichts Neues“, sagte Christine Seifert und blickte herausfordernd zu Matthias Peters hinüber. „Trotzdem bin ich nach wie vor überzeugt davon, dass wir mit dem Instrumentarium der klassischen Analyse in der Lage sind, in wesentlich tiefere Dimensionen der Psyche vorzudringen. Die Veränderungen im Laufe des Heilungsprozesses sind doch gezwungenermaßen von völlig anderer Qualität, speziell was somatische Symptome angeht.“
„Natürlich“, entgegnete Matthias, der den Ball nur allzu gerne aufnahm. „Es hat sich schon immer als sinnvoller erwiesen, über die Natur und Beschaffenheit des Pfeils zu philosophieren, als ihn herauszuziehen. Vor allem im Hinblick auf das Wohl des Patienten, in dessen Körper er steckt.“
Da absehbar war, welche Richtung dieser nicht allzu originelle Dialog nehmen würde, ergriff Elvert die Gelegenheit, sich Helmut Fechter zuzuwenden und ihn zu einigen Details aus seiner Praxis zu befragen, die ihm schon seit langer Zeit unter den Nägeln brannten. Dieser gab dann auch mit der ihm eigenen heiteren Gelassenheit bereitwillig Auskunft.
„In der Transaktionsanalyse arbeite ich praktisch ausschließlich mit Gruppen. Bei Gestalt sieht das wieder etwas anders aus. Aber ganz grundsätzlich ist die Gruppe ein aus meiner Sicht unverzichtbarer Katalysator. Bei der TA handelt es sich um eine reine Lehr- und Lernmethode, die von der ersten Minute an auf die uneingeschränkte Autonomie des Klienten setzt. Die zwangsläufig hierarchische Struktur der üblichen Arzt-Patient-Begegnung ist hier eher hinderlich, zumal meine Klientel davon ohnehin den ganzen Tag lang mehr als genug hat.“
Elvert nickte. „Das ist genau der Punkt, der mich am meisten interessiert: Wie bringst du diese äußerst lebensorientierten Ansätze in Einklang mit deiner Arbeit mit Sterbenden? Ich meine, besteht da nicht ein gewisser Widerspruch?“
„Inwiefern?“
„Stehen in dieser Phase im Leben eines Menschen nicht andere, dringlichere Bedürfnisse im Vordergrund?“
„Hast du eine Ahnung! Sobald ein Patient schmerzfrei und bei klarem Bewusstsein ist – das ist natürlich Voraussetzung –, bricht im Angesicht des bevorstehenden Todes das Nicht-O.K.-Kindheits-Ich oft mit einer enormen emotionalen Wucht hervor. Und gerade hier
Weitere Kostenlose Bücher