Der Krater
über seine Zielperson. Er würde sich die Seite heute Abend gründlicher vornehmen, seine Recherche machen und morgen zuschlagen. Er konnte sich kaum mehr erinnern, wie es früher gewesen war, vor Google Earth, MapQuest, Facebook, YouTube, Personen-Suchmaschinen und Online-Telefonbüchern. In einer halben Stunde konnte er heute die Recherche erledigen, für die er früher einmal eine Woche gebraucht hatte.
Harry Burr legte die Unterlagen beiseite und gestattete sich ein wenig Selbstreflexion. Er war gut, und nicht nur deshalb, weil er eine Privatschulbildung besaß und lateinische Deklinationen beherrschte. Er war gut, weil er nicht gern mordete. Es verschaffte ihm keinen Genuss. Er brauchte es nicht, er wollte es nicht unbedingt, für ihn war es nicht wie Essen oder Sex. Er war gut, weil er mit seinen Opfern fühlte. Weil sie für ihn echte Menschen waren, konnte er sich in sie hineinversetzen und die Welt mit ihren Augen betrachten. Das machte es sehr viel einfacher, sie zu töten.
Und außerdem war er effizient. In seinem früheren Leben, als er noch ein rotznasiger, arroganter Privatschulbengel namens Gordie Hill gewesen war, hatte sein Vater ihm beigebracht, was Effizienz bedeutete. Er hatte seinen ganzen Schatz von Weisheiten immer wieder gern zitiert: Wenn du etwas tust, mach es richtig; wenn du viel Geld verdienst, kümmert es keinen, wie du es verdient hast; wenn du gewinnen willst, ist eine Möglichkeit so gut wie die andere. »Der Sieger wird später nicht gefragt, ob er die Wahrheit gesagt hat oder nicht.« Mit diesen Worten hatte der alte Mann die Küche verlassen, nachdem er Gordies Mutter erschossen hatte. Danach war er nie wieder gesehen worden. Ein paar Jahre später hatte Harry erfahren, dass sein Vater damals Hitler zitiert hatte. Sehr witzig.
Harry Burr lächelte. Er hatte einen »Schaden« erlitten – das hatten nach dem Mord an seiner Mutter jedenfalls all die Schulpsychologen behauptet, die Sozialarbeiter, Psychologen und anderen Leute, die einem für hundert Dollar die Stunde gute Ratschläge erteilten. Warum also sollte man aus der Beschädigung nicht einen Beruf machen? Er zog seine zerknitterte Zigarettenpackung aus der Hemdtasche. Er fischte die letzte heraus, zündete sie an und steckte die leere Packung wieder ein. Wie hatte noch der heilige Augustinus gesagt? »Herr, gib mir Keuschheit, aber noch nicht jetzt.« Irgendwann würde er damit aufhören, aber noch nicht jetzt.
48
A bbey wartete hinter Ford, als der an die offene Bürotür von Dr. Charles Chaudry klopfte, dem Direktor der Marsmission. Ihr war heiß, und sie fühlte sich unwohl in dem neuen Kostüm, das Ford ihr aufgedrückt hatte – es juckte, vor allem im Juni in Kalifornien.
Der Missionsdirektor kam mit ausgestreckter Hand hinter seinem Schreibtisch hervor.
»Meine Assistentin, Abbey Straw.«
Abbey drückte die kühle Hand. Chaudry war ein gutaussehender Mann mit schmalen, feingemeißelten Gesichtszügen, dunkelbraunen Augen, einem federnden Gang, athletischer Figur und sympathischem Auftreten. Er hatte einen dieser straffen kleinen Pferdeschwänze, die bei Kaliforniern eines bestimmten Alters anscheinend unerlässlich waren.
»Kommen Sie herein, bitte«, sagte der Mann mit beinahe melodiöser Stimme.
Ford ließ sich auf einem Stuhl nieder, und Abbey tat es ihm gleich. Sie bemühte sich, ihre Nervosität zu verbergen. Ein Teil von ihr fand die ganze abenteuerliche Geschichte und den Vorwand, mit dem sie sich hier Zutritt verschafft hatten, sehr aufregend. Dieser Ford, der so korrekt und stinknormal wirkte, war in Wahrheit geradezu subversiv. Das gefiel ihr.
Das Büro war angenehm groß und minimalistisch, durch die Fenster schaute man auf graubraune Berge hinaus, die abrupt hinter dem riesigen Parkplatz emporragten. Zwei Wände voller Bücherregale bestärkten die behagliche Atmosphäre der Gelehrsamkeit. Alles war pieksauber und ordentlich.
»Schön«, sagte Chaudry und faltete die Hände. »Sie schreiben also ein Buch über unsere Marsmission.«
»So ist es«, sagte Ford. »Einen großen, prächtigen Bildband. Man hat mir gesagt, Sie wären für die Kartografierung und Fotografie der Oberfläche zuständig.«
Chaudry nickte.
Ford beschrieb das Buch enthusiastisch und in allen Details, das Layout, den Inhalt und natürlich all die schönen Fotos. Abbey staunte über die Verwandlung – der sonst so trockene, nüchterne Mann sprudelte über vor Begeisterung. Chaudry hörte höflich zu, die Hände an den
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