Der Kreis aus Stein
Wölfe fernzuhalten.
Den goldenen Schild hatte er über dem Leichnam in den Baum gehängt. Er nahm den Helm seines Vaters, legte ihn zu Füßen des Toten in den Schnee – als Zeichen, daß sein Vater im Kampf gefallen war.
Sie wendete ihr Pferd, ritt zu ihm hin, den Hengst ihres Vaters führend. Hinter König Sylvarresta folgten die drei Days. Ihrer, der ihres Vaters und Gaborns. Wenige Minuten zuvor wäre König Sylvarresta beinahe tief und fest eingeschlafen, jetzt aber schaute er sich trüben Blicks um und betrachtete lächelnd den Schnee – ein Kind erfüllt von Freude.
Gaborn sah hoch zu Iome, als sie sich näherte. Sein Gesicht wirkte leer und verzweifelt. Da wußte Iome, daß sie keine Worte finden würde, ihn zu trösten. Sie hatte nichts, was sie ihm bieten konnte. In den letzten Tagen hatte sie fast alles verloren – ihr Zuhause, ihre Eltern, ihre Schönheit – und weniger greifbare Dinge.
Wie werde ich jemals wieder schlafen können? fragte sie sich. Für sie war eine Burg immer das höchste Sinnbild der Geborgenheit gewesen. In einer Welt der Gefahren hatte sie immer einen sicheren Zufluchtsort dargestellt.
Vorbei.
Jetzt glaubte sie, ihre Kindheit, ihre Unschuld verloren zu haben. Man hatte ihr gewaltsam den Seelenfrieden geraubt.
Nicht nur, weil ihre Mutter tot war und eine ihrer Burgen in Trümmern lag. Sie hatte sich an diesem Vormittag während des Ritts überlegt, was geschehen war. Gestern hatte sie befürchtet, Borenson könnte in die Burg Sylvarresta hineinschleichen und ihre Übereigner umbringen. Sie bildete sich ein, insgeheim gewußt zu haben, was er tun würde, auch wenn sie es abscheulich fand.
Indem sie ihn nicht darauf angesprochen, ihn nicht zur Rede gestellt hatte, hatte Iome sich damit einverstanden erklärt. Seit gestern mittag war ihr all das Grauen mehr zu Bewußtsein gekommen. Jetzt mußte sie erkennen, daß sie schutzlos war.
Sie hatte seit zwei Nächten nicht geschlafen. Seit Stunden war ihr schwindelig und sie befürchtete, vom Pferd zu fallen.
Nun fühlte sie sich, als spränge eine unsichtbare, unter ihrem Bewußtsein verborgene Bestie sie plötzlich an und packte sie.
Iome hatte Gaborn ein Wort des Trostes sagen wollen, doch plötzlich merkte sie, wie ihr eiskalte Tränen über die Wangen liefen. Sie versuchte, sie fortzuwischen, und fing leicht an zu frösteln.
Gaborn hatte den Leichnam seines Vaters mit Liebe hergerichtet. Das Haar des Königs war gekämmt, sein Gesicht war totenbleich. Die Anmut, die er besessen hatte, war mit ihm gestorben, so daß der Mann, den sie sah, nicht jener Orden war, der im Leben so königlich, so mächtig ausgesehen hatte.
Er sah aus wie ein gealterter Herrscher mit breitem Gesicht und leicht wettergegerbter Haut. Er lächelte geheimnisvoll. In voller Rüstung lag er auf einem Brett. Sein reich bestickter Umhang aus glänzendem, golddurchwirktem Seidenstoff hüllte ihn wie eine Robe ein.
Mit seinen Händen umklammerte er die Knospe einer einzigen blauen Rose, vielleicht aus dem Garten des Herzogs.
Gaborn drehte sich um und schaute hoch zu Iome, sah den Ausdruck in ihrem Gesicht und erhob sich dann langsam, als bereitete ihm die Anstrengung Qualen. Er ging zu ihr, nahm sie bei den Schultern, während sie von ihrem Pferd herunterglitt, und drückte sie an sich.
Sie glaubte, er würde sie küssen, ihr sagen, sie sollte nicht weinen.
Statt dessen klang seine Stimme hohl und leblos, als er wütend zischte: »Trauere um uns. Trauere.«
Borenson kam in einem Zustand äußerster Erregung nach Longmot galoppiert. Von dem Augenblick an, da er fünf Meilen zuvor die Hügelkuppe erreicht und die zertrümmerten Türme und die Menschenmengen gesehen hatte, die zu Tausenden vor der Burg umherliefen, hatte er gewußt, daß ihn keine guten Neuigkeiten erwarteten. Viele Flaggen wehten inmitten der Menschenmengen, aber keine von Raj Ahten.
Borenson wünschte, Raj Ahten wäre tot, wollte mit so glühendem Zorn, wie er ihn noch nie verspürt hatte, über den Wolflord herfallen.
Daher befand er sich noch immer in einem Zustand verzweifelter Wut, als er die Nordseite hinunter nach Longmot hineinsprengte und auf zerlumpte Bürger traf, die zu Tausenden herumirrten. Er suchte in der Menge nach Ordens Flaggen, konnte sie aber nirgendwo entdecken.
Er ritt auf ein paar junge Burschen zu, die sich im Schnee draußen vor der Burg balgten und die Leiche eines von Raj Ahtens Soldaten plünderten. Einer der jungen Burschen war vielleicht vierzehn, ein
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