Der Kreis der Dämmerung 01 - Das Jahrhundertkind
ihren Kopf in den Nacken und sah mit spitzbübischem Grinsen hoch in sein Gesicht. »Wieso? Hast du etwa schon etwas Besseres vor?«
»Etwas Besseres?« Davids traurige Augen begannen zu leuchten. »Nein, wie könnte ich?«
Er legte die Schwerter nieder und hob dafür seine junge Frau vom Boden auf Ein paar schnelle Herzschläge später waren sie im Schloss verschwunden.
Das erzwungene Exil begann den beiden zu gefallen. Während des Wochenendes genossen sie es sogar. Tagsüber erfreuten sie sich an der Natur und in der Nacht aneinander.
Am Montag, dem 14. Juli, war es dann endlich so weit: In einer unscheinbaren Amtsstube, durch deren Fenster man die Brecher der Irischen See beobachten konnte, wurde aus David und Rebekka höchst offiziell das Ehepaar Murray gemacht.
Noch am selben Tag bestiegen die beiden die Fähre nach Dublin. Sie hätten gut und gerne noch zwei oder drei Wochen auf der kleinen Insel verbringen können, aber David wollte kein Risiko eingehen. Je schneller sie aus der Welt verschwanden, die einst die ihrige war, desto schwerer würden sie vom Kreis der Dämmerung aufgespürt werden können.
Der Duke of Atholl hatte sich bereit erklärt, Rebekkas Mutter auf Umwegen darüber in Kenntnis zu setzen, dass sie auf Grund besonderer Umstände möglicherweise eine Zeit lang nichts von ihren Kindern hören würde. Sie solle sich deshalb keine Sorgen machen. David hätte auch gerne die Herausgeber des Time-Magazins über seine Absichten in Kenntnis gesetzt, aber zuletzt verzichtete er doch darauf. Sollte der Kreis der Dämmerung von dem Telefonat mit Briton Hadden wissen, dann würden sie eine diesbezügliche Nachricht womöglich abfangen. Nein, David musste das Risiko eingehen und Hadden mit seinem Besuch überraschen.
Die Fähre nach Dublin brauchte nur etwa fünf Stunden, aber dann dauerte es weitere fünf Tage, bis sie mit einem Ozeandampfer nach New York Weiterreisen konnten.
Sie vertrieben sich die Wartezeit mit Besichtigungen und Ausflügen in die nähere Umgebung von Dublin. Zwei- oder dreimal besuchten sie abends auch einen Pub. Die Iren waren zwar tief im Katholizismus verhaftet, lebten ihren Glauben aber auf eine erfrischend natürliche Weise. In dieser Hinsicht fand Rebekka sie den Franzosen erheblich ähnlicher als die viktorianisch steifen Anglikaner in England.
Noch drei Jahre zuvor hatte in Irland ein blutiger Bürgerkrieg getobt. Eamon de Valera, der Führer der irischen Unabhängigkeitsbewegung, hatte vor dem Parlament in London das Verhalten der britischen Truppen angeprangert. Er beschuldigte sie schwerer Verbrechen wie Gefangenenfolter, Mord an Kindern und Vergewaltigungen. Darauf besetzte die britische Armee im Februar 1921 Dublin. Ganze Stadtviertel fielen in Trümmer. Zehn Monate später wurde dann der »Irish Free State« ausgerufen. Irland erhielt den Status eines Dominions des britischen Commonwealth. Damit war es Ländern wie Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika gleichgestellt. Die sechs überwiegend protestantischen Grafschaften im Norden verblieben bei Großbritannien – für das irische Volk eine schmerzliche Amputation, die noch auf Jahrzehnte bluten sollte.
Obwohl sich Mr und Mrs Murray im jungen irischen Freistaat pudelwohl fühlten, fieberten sie doch schon dem entgegen, was noch vor ihnen lag: die Vereinigten Staaten von Amerika. Als sie daher am 19. Juli den Ozeandampfer bestiegen, der sie zu diesem Ziel bringen sollte, fiel ihnen der Abschied nicht wirklich schwer.
Das Schiff benötigte für die ungefähr viertausend Seemeilen knapp anderthalb Wochen. Auch für diese Passage hatte der Herzog von Atholl bereits eine komfortable Suite in der ersten Klasse gebucht. David musste sich also um nichts anderes kümmern als um seine hübsche Frau. Das tat er dafür umso gründlicher.
Die Überfahrt war alles in allem ruhig. Tagsüber verbrachten David und Rebekka viel Zeit auf dem Promenadendeck. Weil sie überwiegend mit sich selbst beschäftigt waren, knüpften sie nur wenige Bekanntschaften. David war der blasierten Gesellschaft auf dem Oberdeck ohnehin nicht besonders zugetan. Er wusste, dass in dem fensterlosen Bauch des Schiffes hunderte von Aussiedlern steckten, die kaum an die frische Luft kamen. Diese armen Schlucker, die manchmal ihre letzten Ersparnisse für eine Schiffspassage ins »gelobte Land« hergaben, waren die eigentliche Geldquelle, aus der die großen Reedereien ihren Reichtum schöpften, die Steifhälse, die sich im
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