Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Tage, bis der Mönch in den Vatikanischen Archiven Dokumente darüber fand. Walter Andraes Äußerungen über den Ort, »an dem die Sonne am Horizont untergeht«, kamen ihm wieder in den Sinn. Der Turm! , schoss es David durch den Kopf. Bei der Recherche in der Bibliothek des Pergamonmuseums war er bisher viel zu allgemein vorgegangen. Er musste sich auf den Turm konzentrieren.
David verfiel in hektische Betriebsamkeit. Am liebsten wäre er sofort ins Museum gefahren, um seinen ungarischen Riesenschnauzer Laszlo Horthy auf die neue Fährte anzusetzen. Aber da – kaum hatte er die Antwort auf Lorenzos Brief verfasst – erinnerte ihn Rebekka an einen wichtigen Interviewtermin.
Kein Geringerer als Reichskanzler Brünings Name stand in Davids Kalender. Einen Regierungschef konnte man nicht so einfach versetzen, zumal die positive Reaktion des Papstes auf Davids mahnende Worte einen ähnlichen Einsatz bei anderen »Würdenträgern« zu empfehlen schien. Mit einem flüchtigen Kuss verabschiedete er sich von Rebekka, stürzte mit seiner Aktentasche aus dem Haus und kaperte in der Bergstraße ein Taxi. Vor der Redaktion der Berliner Illustrierten Zeitung unterbrach er seine Fahrt für wenige Minuten, um Friedhelm Lauser einen versiegelten Umschlag zu hinterlassen, der noch am selben Tage an den Mailänder Uhrmacher Ignazio Pizzoferrato geschickt und von diesem postwendend nach Rom zu Lorenzo Di Marco weitergeleitet werden sollte. David sprang zurück in das wartende Taxi und setzte seine Fahrt fort. Während die stuckverzierten Fassaden von Tempelhof und Kreuzberg an ihm vorüberflogen, ordnete er seine durcheinander wirbelnden Gedanken: jetzt der Reichskanz ler und anschließend der Riesenschnauzer.
Das Gespräch mit Deutschlands Regierungschef berechtigte zu verhaltenem Optimismus. Zwar wollte Heinrich Brüning in Hindenburgs präsidialem Notverordnungsregiment – von dem er als Kabinettschef indirekt profitierte – partout keine Gefährdung erkennen, geschweige denn einen Missbrauch der Staatsgewalt, aber wenigstens teilte er Davids Einschätzung Hitlers. Brüning versicherte, obwohl der alte Reichspräsident von dem »böhmischen Gefreiten« ohnehin keine sehr hohe Meinung habe, werde er Hindenburg vor den Nationalsozialisten warnen. Wenig Einfluss habe er dagegen auf die Einflüsterungen anderer – seit einiger Zeit solle in der Nähe des greisen Kriegerdenkmals auffällig oft dessen Protege, Franz von Papen, gesichtet worden sein.
Was führt Papen im Schilde? Davids Gedanken kreisten um diese Frage, als er nach dem Interview im Taxi zur Museumsinsel fuhr. War der ehemalige Kavallerieoffizier Belials »Spinne«, die den senilen Generalfeldmarschall in ein Netz betörender Worte einweben sollte, bis das Land führungslos ins Chaos stürzte?
Zunächst jedoch musste er dem ungarischen Spürhund Beine machen. Es war bereits kurz nach eins, höchste Zeit für einen dynamischen Auftritt. Mit langen Schritten durcheilte David das Foyer des Museums. Die blonde Empfangsdame winkte ihm freundlich zu. Er winkte im Laufen zurück. Man kannte sich ja. Nach einigen Minuten erreichte er die Bibliothek. Gewohnheitsmäßig klopfte er immer an, bevor er hier einen Raum betrat – aber diesmal vergaß er es.
Laszlo Horthy erschrak. David konnte gerade noch sehen, wie der Wissenschaftler sein Butterbrotpapier vom Tisch raffte, als handele es sich um Diebesgut. Aus seiner Faust lugte die Spitze eines Bleistiftstummels. Horthy wirkte seltsam verstört. Seine Augen sprangen zur Regalwand hin, die neben der Tür aufragte, dann kehrten sie wieder zu David zurück.
»Ich habe heute gar nicht mehr mit Ihnen gerechnet, Mr Pratt.«
»Den Eindruck habe ich auch«, entgegnete David schmunzelnd und blickte auf den fettigen Fleck mitten auf der Tischplatte, die augenfällige Reminiszenz des verschwundenen Pergamentpapiers. »Normalerweise essen Sie mittags doch immer in der Kantine, von zwölf bis halb eins, wenn ich mich recht entsinne.«
»Ich war so in die Arbeit vertieft – da wollte ich nicht mehr Zeit verlieren als unbedingt nötig.«
»Das freut mich. Ich wollte Sie sowieso gerade fragen, ob wir unsere Suche nach den gläsernen Objekten nicht etwas forcieren können.« David schilderte kurz seine Überlegungen zur Rolle des Turms von Babylon als möglichem Versammlungsort der Bruderschaft vom Ende des Sonnenkreises.
Horthy schien ihm gar nicht richtig zuzuhören. Seine Hände spielten mit dem zerknüllten
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