Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Regierungswechsel gegeben. Wer sagt denn, dass Hindenburg seinem neuen Kanzler nicht in Kürze wieder einen Tritt gibt, so wie zuvor schon Papen und Schleicher?«
»Das scheinen alle hier im Haus zu glauben.« David machte eine Geste, welche die Nachbarn umfassen sollte, fast alle.
»Die Joleite meinte vorgestern, sie habe das alles schon immer kommen sehen.«
»Nicht nur sie. Ich wüsste gerne…« David rieb sich nachdenklich das Kinn.
Rebekka blickte ihn erwartungsvoll an. »Ja?«
»Warum war Franz von Papen im Vatikan? Ich bin sicher, ihn und niemand anderen vor Pacellis Büro gesehen zu haben.«
»Damals gehörte er noch dem Zentrum an. Soweit ich weiß, ist das eine katholische Partei.«
»Es sollte mich wundern, wenn alle Zentrumsabgeordneten so enge Kontakte zum Vatikan pflegten. Vielleicht liegt in diesem Detail der Schlüssel zu Papens nächstem Schachzug.«
»Und der wäre?«
»Die Festigung von Hitlers Regierung. International genießt er nicht gerade den Ruf eines ernst zu nehmenden Staatsmannes. Ich muss unbedingt ein paar Gespräche führen. Vielleicht gewinnen wir ja sogar einen Helfer innerhalb der Kirche hier in Deutschland.«
Rebekka rümpfte die Nase. »Hast du etwa schon vergessen, wie viele Klinken du im Vatikan ohne Erfolg geputzt hast?«
Lächelnd antwortete David: »Vergebene Liebesmüh war es aber trotzdem nicht. Schließlich habe ich eine Privataudienz beim Papst bekommen.«
»Belial wird zutiefst zerknirscht darüber sein.«
»Und wer weiß: Vielleicht gibt es ja auch in Berlin einen Lorenzo Di Marco.«
In den nächsten Tagen setzte David seinen stillen Kampf gegen den Kreis der Dämmerung fort, als habe Hitlers Machtergreifung überhaupt nicht stattgefunden. Inzwischen verfügte er in Berlin und Umgebung über ein kleines Netz von vierzehn »Agenten«. Hinzu kamen jene Personen, die ihm wohlgesinnt waren, wie Kurt von Schleicher. Der Reichskanzler außer Dienst beurteilte Papens Absichten so pessimistisch wie noch nie – dementsprechend heftig wies er Davids fast schon flehentliche Bitte zurück, endlich einen Blick auf die babylonische Glaskugel werfen zu dürfen. Wenigstens gab er ihm einen brauchbaren Hinweis, als David nach einem »aufrechten Kirchenmann« fragte.
»Versuchen Sie es mit Niemöller«, schlug Schleicher vor.
Pastor Martin Niemöller war Protestant, ein schlanker Vierziger, dem, wenn er nicht gerade in seiner St.-Annen-Kirche predigte, eine Pfeife zwischen den gelben Zähnen steckte. Als David dem Priester am 16. Februar 1933 zum ersten Mal vor seinem Pfarrhaus im noblen Villenvorort Dahlem begegnete, war er skeptisch eingestellt. Er hatte schon verschiedene, hauptsächlich katholische Geistliche um Mithilfe gebeten und immer eine Abfuhr erhalten.
Zunächst schien alles wie gewohnt enttäuschend zu verlaufen. Niemöller, der sich in pastoralem Einheitsschwarz präsentierte, vertrat die Ansicht, Deutschland habe der Weimarer Republik »vierzehn Jahre Dunkelheit« zu verdanken und nun, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten, sei die Zeit für eine »nationale Wiedergeburt« gekommen. Obwohl Protestant, teile er die Abneigung des Papstes – und ebenso der NSDAP – gegen die Kommunisten.
»Lenin hat gepredigt, Religion sei Opium für das Volk. Wie könnte ausgerechnet ich da seine Anhängerschaft lieben, Mr Pratt?«
»Hat nicht Jesus seinen Jüngern gepredigt, sie sollten sogar ihre Feinde lieben?«
Martin Niemöller blickte David nachdenklich an, während er rhythmisch an der Pfeife zog. Mit einem Mal lächelte er. »Sie gefallen mir, Mr Pratt. Es ist kühl hier draußen. Kommen Sie doch mit ins Pfarrhaus, dann können wir das Thema bei einer heißen Tasse Tee vertiefen.«
Martin Niemöller nahm sich für seinen unangemeldeten Gast drei Stunden Zeit. Zu Davids Überraschung war der Pastor sehr aufgeschlossen. Er pflegte die verschiedensten Kontakte zu den »Kollegen auf dem bunten religiösen Blumenbeet Berlins«. Ja, David glaubte sogar, bei ihm jene Art von Wahrheitsliebe zu entdecken, die alle seine »Brüder« auszeichnete. Deshalb beschloss er dem Geistlichen eine Chance zu geben. Niemöller jedenfalls schien das Gespräch mit dem jüngeren, aber offenbar viel welterfahreneren Journalisten genossen zu haben.
»Natürlich werden wir uns wieder sehen«, antwortete er auf Davids diesbezügliche Frage.
Als David am Nachmittag zum Richardplatz zurückkehrte, war gerade Mia Kramer zu Besuch in ihrer Wohnung. Die Künstlerwitwe
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