Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
»Also gut«, stimmte er schließlich zu. Was hätte er auch anderes tun können? »Dann werden wir uns zukünftig also mit der Welt der Insekten befassen.«
Seans Gesicht drückte Unverständnis aus. »Was hat das mit Weltliteratur zu tun?«
»Sag bloß, du weißt nicht, was für ein Klassiker Die Biene Maja von Waldemar Bonsels ist?«
Parade
Jemand arbeitete gegen ihn. Diesen Eindruck wurde David einfach nicht los. Wie sonst konnte es sein, dass er in Berlin nach Friedhelm Lauser nun auch Sean als Helfer verlor? Die Quelle Kurt von Schleicher sprudelte auch nicht mehr so wie früher.
»Geben Sie mir etwas Zeit, Mr Pratt.« Der geschasste Reichskanzler sagte immer dasselbe, auch an diesem Donnerstag nach der Bücherverbrennung.
»Die Glaskugel kann einmal über das Schicksal unzähliger Menschen entscheiden, Herr Reichskanzler. Ich…«
»Nennen Sie mich nicht mehr so«, fiel der General David ärgerlich ins Wort. »Ich bin kein Regierungschef mehr. Dafür haben Papen und Konsorten gesorgt. Abgesehen davon, überlegen Sie doch einmal: Wenn diese seltsame Lichterkugel wirklich so bedeutend für die Menschheit sein sollte – woran ich übrigens immer noch nicht recht glauben kann –, dann ist sie bei mir vermutlich besser aufgehoben als bei Ihnen.«
David sah Schleicher erstaunt an. »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Man könnte Ihnen die Kugel vielleicht eher stehlen als mir. Vor zwei Tagen hat jemand in mein Haus eingebrochen…«
David erschrak. »Sie haben doch nicht…?«
Schleicher schüttelte den Kopf. Sein Grinsen endete in einer hässlichen Grimasse. »Darum geht es ja gerade. Die Kugel ist nach wie vor in meinem Besitz, gut versteckt, wie spätestens jetzt auch unser gemeinsamer Widersacher wissen dürfte. Politisch mag ich zwar ein Versager sein, aber…«
»Sie sind kein Versager, Herr…«
»Lassen Sie mich ausreden, Mr Pratt. Ich weiß, was ich bin.« Schleicher fuhr sich mit einer zittrigen Hand über den fast kahlen Schädel und lächelte ahnungsvoll. »Aber bei Ihnen bin ich mir da nicht so sicher. Sie sind jedenfalls nicht der einfache Time-Reporter, für den Sie sich ausgeben. Das ist mir schon lange klar. Keine Sorge, ich vertraue Ihnen und Ihren guten Absichten, aber leider sind Sie, was die Letzteren betrifft, genauso schweigsam wie ich über den Aufbewahrungsort der gläsernen Kugel.«
Schleicher sagte die Wahrheit. Er war bisher zu unberechenbar gewesen, um sich für Davids Bruderschaft zu qualifizieren. Doch nun sah David ein, dass er von diesem streng militärisch denkenden Menschen keine Zugeständnisse erwarten konnte, wenn er nicht selbst bereit war, solche zu machen.
Er seufzte. »Na schön, ich werde Ihnen mehr über meine Bestimmung erzählen.«
Und das tat David dann auch. Mit aller Vorsicht weihte er Schleicher in die groben Strukturen des Jahrhundertplans ein. Anschließend nickte der Reichskanzler a. D. nachdenklich, bevor er endlich die erlösenden Worte sprach.
»Also gut, Mr Pratt. Lassen Sie uns einen Kompromiss schließen. Sie haben selbst zugegeben, dass die Glaskugel für den Augenblick bei mir sicherer verwahrt ist als in Ihrer Neuköllner Wohnung. Wenn Sie das Wissen um die Anwendung dieser – wie nannten Sie es doch gleich? – Träne erlangt haben, dann werde ich sie aus ihrem Versteck holen. Aber bis dahin ist sie meine Lebensversicherung.«
David stimmte dem Vorschlag zu. Schleicher hatte ja Recht. Papen und sein unheimlicher Großmeister Belial konnten erst unschädlich gemacht werden, wenn das Geheimnis von Jasons Träne vollständig gelüftet war.
Etwa zwei Wochen nach der Bücherverbrennung half David seiner Frau gegen sieben Uhr früh in die Jacke ihres cremefarbenen Kostüms, weil es an der Zeit war, sich zum verabredeten Treffen mit Edgar Jung zu begeben. Mittlerweile fand kaum noch eine Zusammenkunft mit Davids »Brüdern« in normalem Rahmen statt. Alles hatte einen verschwörerischen Charakter angenommen. Entweder begegnete man sich wie zufällig auf verschwiegenen Lichtungen im Grunewald oder an Orten, wo die Masse als Tarnung diente.
Treffpunkt an diesem Morgen war der Dennewitzplatz im Bezirk Tiergarten.
Als das Ehepaar Pratt aus der Wohnung treten wollte, musste es zunächst einmal einen Spiegel an sich vorbeiziehen lassen. Das Möbelstück kam von rechts: ein schmaler, fast mannsgroßer Nussbaumholzrahmen, in dem eine zersprungene Scheibe steckte.
»Muss einem der neuen Mieter gehören, die zum ersten Juni
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