Der Kreis der Dämmerung 02 - Der Wahrheitsfinder
Kardinalstaatssekretär Gasparri für seinen obersten Dienstherrn den großen Coup gelandet. Jedenfalls scheint Ratti – der Papst – dieser Ansicht zu sein: Der Vatikan wurde ein souveräner Staat, er dessen weltliches Oberhaupt und dafür hat er sich mit dem Stiernacken Benito ausgesöhnt. Nicht wenige haben in diesem Akt einen Segen des Pontifex für die Machtambitionen des Duce gesehen. Ich frage mich nur, ob die heilige Mutter Kirche sich Burschen wie Mussolini gar so bereitwillig an den Hals werfen sollte – man könnte sie ja glattweg für ein leichtes Mädchen halten.«
David blickte skeptisch in die kämpferisch funkelnden Augen des Professors. Leopardis Anwürfe gegen den Papst kamen ihm wie das Donnerwetter eines braven italienischen Sozialisten vor, der am nächsten Morgen dann doch wieder zur Messe in die Kirche geht. Andererseits stimmte ihn einiges, was der Professor gesagt hatte, nachdenklich. »Glauben Sie nicht, der Heilige Stuhl würde klar Stellung beziehen, wenn Diktatoren wie Mussolini den Bogen überspannen?«
Leopardi zögerte nur einen Moment, dann schüttelte er überzeugt den Kopf und entgegnete: »Ich halte eher das Gegenteil für wahrscheinlich.«
»Wie meinen Sie das?«
»Die Kurie wird noch weiteren Mussolinis in die Steigbügel helfen.«
»Zum Beispiel?«
»Hitler.«
»Nun machen Sie aber einen Punkt, Professore! Nach allem, was man hört, sind die deutschen Nationalsozialisten nun wirklich keine Chorknaben.«
»Das waren Benitos Terrorkommandos auch nicht. Wenn mir beim Zeitunglesen in letzter Zeit nicht etwas Wesentliches entgangen ist, dann zieht Hitlers NSDAP in immer mehr Landesparlamente des Deutschen Reiches ein. Währenddessen hat die katholische Kirche in mehreren Ländern ihre Stellung durch Konkordate gefestigt: 1924 in Bayern und letztes Jahr in Preußen. Der Mann, dem diese diplomatischen Schachzüge gelungen sind, ist ein gewiefter Taktiker. Sie sollten seinen Namen in Ihrer Kartei vermerken.«
»Sie meinen im Schattenarchiv?«
»Wie auch immer. Ich rede vom frisch gebackenen Kardinal Eugenio Pacelli. Er hat zwölf Jahre lang in Deutschland als Nuntius des Heiligen Stuhls gedient, gewissermaßen als Botschafter, wenn Sie so wollen, Pacelli steht den Deutschen sehr freundlich gegenüber. Er ist weniger ein Priester als ein mit allen Wassern gewaschener Diplomat und als solcher leidet er an der Krankheit seines Standes.«
»Sie werden lachen, ich habe bereits ein Dossier über Pacelli… Von was für einer Krankheit sprechen Sie überhaupt?«
»Der Kardinal scheut den offenen Konflikt. Ich rede nicht von Kampf, sondern von klaren Worten. Manchmal ist so ein reinigendes Gewitter zwar nicht diplomatisch, aber es klärt die Fronten. Bei Pacelli fürchte ich allerdings, er würde selbst einen Reichskanzler Hitler tolerieren, wenn er dadurch die Interessen der Kirche schützen könnte.«
Schon von Anfang an barg Davids in einer von ihm selbst entwickelten Geheimschrift verfasstes Schattenarchiv neben den Dossiers möglicher Unterstützer des Kreises auch die Namen jener, die zu dessen Opfern werden konnten, weil sie an den Schaltstellen der Macht saßen. Täter oder Opfer – nicht jeder war einer Rolle klar zuzuordnen. Der Große Krieg hatte das Gottesgnadentum und die großen Monarchien zersprengt. Aber nicht Sicherheit und Frieden hatten sich eingestellt, sondern es war zu einem manchmal brutal geführten Kampf um Einfluss innerhalb der politischen Systeme gekommen. Neben Demokraten, Faschisten und Sozialisten bolschewistischer Couleur rangelten auch Militärs und Wirtschaftskapitäne um ein Stück vom großen Kuchen der Macht. Neue Diktaturen liefen zur Höchstform auf. Und mitten in diesem unübersichtlichen Schlachtfeld verteidigten die Religionen eifersüchtig ihre letzten Fluchtburgen.
Die Zeit, da die katholische Kirche selbstherrlich das Handeln von Kaisern und Königen diktiert hatte, schien spätestens seit 1870 abgelaufen. Damals hatte die italienische Regierung das Patrimonium Petri, das »Erbteil des Petrus«, aufgelöst. Doch ausgerechnet Mussolini, ein brutaler Diktator, hatte die Zügel wieder gelockert und den Päpsten die Souveränität über ihren Kirchenstaat zurückgegeben – wenn dieser auch auf die zwergenhafte Vatikanstadt zusammengeschrumpft war. Angesichts dieser Faktenlage fragte sich David, welche Rolle der Heilige Stuhl in Zukunft spielen würde. Wer machte hier eigentlich wen zum Instrument? Der Einfluss der katholischen Kirche
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